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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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dein Examen in Yale gemacht hast. Du brauchst Geld, JR. Geld zum Leben. Geld um, um – wenn schon nichts anderes – deine Rechnung in der Bar zu bezahlen.«
    Ich erzählte ihr nicht, dass es keine Barrechnung gab, weil Neffen von Barmännern umsonst tranken. Mir war klar, dass dieses Argument weder meine Sache verbessern noch meine Mutter beruhigen würde. Ich trank meinen Scotch und hielt den Mund, die letzte kluge Entscheidung, die ich für sehr lange Zeit traf.
     
     
     
27 | RJ MOHINGER
     
    Ich lief die Plandome Road hoch und runter, füllte Bewerbungen aus und stellte mich jedem Ladenbesitzer und Geschäftsleiter vor. Oben an der Plandome Road war ich am Ende. Es war knallheiß, ich brauchte etwas zu trinken. Ich sah auf die Uhr. Beinahe Happy Hour. Ich blickte auf. Das nächste Geschäft war Lord & Taylor. Eine Bewerbung noch, sagte ich mir, dann gehe ich auf ein Bier und einen Smelly Burger ins Publicans zu Onkel Charlie.
    Die Personalfrau bei Lord & Taylor sagte, in der Abteilung Herrenmode gebe es keine freie Stelle. Ich schmeckte schon das Bier, als ich dastand und mich für ihre Zeit bedankte. »Einen Moment noch«, sagte sie. »In der Abteilung Heimdekor haben wir was.«
    »Heimdekor?«
    »Handtücher. Seifen. Kerzen. Eine schöne Abteilung. Und es ist eine Ganztagsstellung.«
    »Ich weiß nicht.« Ich dachte an mein Diplom. Ich dachte an meinen Stolz. Dann dachte ich an den Gesichtsausdruck meiner Mutter im Publicans. »Wann müsste ich … Wann könnte ich anfangen?«
    »Sofort.«
    Die Personalfrau und ich fuhren mit der Rolltreppe in die Abteilung Heimdekor, die im Kellergeschoss lag. Sie stellte mich der Belegschaft vor, vier Damen, die bei den ursprünglichen Suffragetten dabei gewesen sein mussten. Die Leiterin der Abteilung Heimdekor führte mich in ein Hinterzimmer und gab mir eine kurze Einweisung, die nur zehn Minuten dauerte, da es nicht viel einzuweisen gab. Bei Lord & Taylor gab es keine Computer, keine Kassen, kein sichtbares Zeichen, dass sich das zwanzigste Jahrhundert seinem Ende näherte. Jeder Verkauf wurde auf einem Auftragsblock notiert, Rechnungen mit Durchschlagpapier erstellt, und im seltenen Fall eines Barverkaufs wurde das Wechselgeld aus einer metallenen Geldkassette geholt. Die Kunden fanden es urig, sagte sie, dass Lord & Taylor an den alten Gepflogenheiten festhielt. Sie reichte mir eine Schürze, schrieb mir ein Namensschild – RJ Mohinger – und schickte mich in die Verkaufsetage. »Sie können mit Abstauben anfangen«, sagte sie.
    In einer der verspiegelten Musikboxen, die in der Abteilung Heimdekor im Ausverkauf waren, erhaschte ich einen Blick von mir. Sieht aus wie ich, aber das kann ich nicht sein, denn ich trage eine Schürze und schwinge einen Staubwedel und stehe bei Lord & Taylor im Kellergeschoss. Yale im Mai, Heimdekor im Juni. Ich dachte an andere Yalies wie Jedd den Zweiten und Bayard. Ich stellte mir die Karrieren vor, die sie anstrebten, das aufregende Leben, das sie sich langsam aufbauten. Wenn ich Pech hatte, zog einer in eine Wohnung an der Shelter Rock Road und hielt unterwegs bei Lord & Taylor, um kurz das Telefon zu benutzen, und dann stünde ich da, in Schürze, kastriert, bis zum Hals in Duftseifen.
    »Entschuldigen Sie.«
    Ich drehte mich um. Eine Kundin.
    »RJ«, sagte sie und spähte auf mein Namensschild, »könnten Sie mir mit dem Waterford helfen?«
    Die Frau zeigte auf verschiedene Kristallteile, die sie sich genauer ansehen wollte. Ich holte sie aus der Vitrine und stellte sie auf ein weiches Tuch vor ihr. Sie hob sie ans Licht, wollte detaillierte Auskünfte, und obwohl ich keine Ahnung hatte, merkte ich, dass es bei Lord & Taylor keine Noten gab. Ich erzählte ihr, die bei Waterford in Irland angewandten Herstellungsmethoden gingen noch auf die Zeit der Druiden zurück. Ich erzählte ihr von den Glocken, die jeden Tag im Waterford Castle läuteten (ich beschrieb das Glockenspiel im Harkness Tower) und versicherte ihr, bei Waterford sei jedes Stück ein Unikat, wie eine Schneeflocke, wie die menschliche Seele. Ich wusste nicht, was mir als nächstes über die Lippen kam und war nicht weniger gespannt als die Kundin. Ich log wortgewandt, liederlich, schamlos. Ich log mir den Arsch ab, log mir die Schürze vom Leib, aber meine Lügen gaben mir das Gefühl, einen Teil meiner Würde zurückzugewinnen.
    Die Kundin kaufte Waterford-Kristall im Wert von sechshundert Dollar und machte mich in der Abteilung Heimdekor zum Verkäufer des Tages,

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