Tender Bar
er und drehte die Lautstärke bei »My Way« auf. Als ein junger Möchtegernhippie in Wildlederjacke mit Fransen an den Ärmeln ihn fragte, ob er nicht bitte etwas anderes spielen könne, blitzte Onkel Charlie ihn böse an und drehte langsam noch lauter.
Steve begrüßte meine Mutter überschwänglich. Er beglückwünschte sie zu ihrem Ring und bedachte sie mit einer ritterlichen Variante seines Lächelns. Cager tippte zur Begrüßung an seine Schildkappe und sagte zu Onkel Charlie, er wolle ihr einen ausgeben. »Dorothy«, sagte Onkel Charlie, »du wirst von Cager gedeckt.«
Ich wollte meiner Mutter etwas über Lagers Zeit in Vietnam zuflüstern. Sie sollte wissen, welche Ehre es war, wenn Lager ihr einen Drink ausgab. Aber Fuckembabe fiel mir ins Wort. »Dein Sohn«, sagte er zu meiner Mutter, »der planscht die Mantsche wie kein anderer in dieser Kasba, vor allem, wenn er die laschen Taschen ausburscht, das muss ich wirklich mal sagen!«
»Ach ja?«, sagte sie und sah mich hilfesuchend an. »Danke.«
Während sich meine Mutter mit Onkel Charlie und Fuckembabe unterhielt, tippte mir Lager auf die Schulter. Er wollte wissen, was ich als Hauptfach gewählt hatte. Geschichte, sagte ich. Er fragte warum. Weil, erklärte ich ihm, einer meiner Professoren gesagt hat, Geschichte sei die Erzählung von Menschen, die eine Heimat suchen, und diese Vorstellung gefiel mir.
»Sag mal, was kostet heutzutage eigentlich ein Studienplatz in Yale?«, fragte er.
»Ungefähr sechzigtausend«, sagte ich. »Aber das meiste wurde durch Zuschüsse, Darlehen und Stipendien finan …«
»Und in welchem Jahr wurde die Magna Charta unterzeichnet?«
»Magna –? Weiß nicht.«
»Dachte ich mir schon. Sechzigtausend, einfach den Bach runter.« Er zündete sich eine Merit Ultra an und trank einen Schluck Budweiser. »Magna Charta – 1215. Grundstein des englischen Gesetzes. Bollwerk gegen Tyrannei. Sie entlassen euch aus diesem verdammten Yale, ohne dass ihr das wisst?«
Er klang, als hätte ihn mein Examen zutiefst verstimmt. Und er war nicht der Einzige. Auch Colt wirkte distanziert, fast wie Yogi Bär, wenn er einen Picknickkorb stiehlt und dann merkt, dass er leer ist. Fühlten sich die Männer, genau wie Sinatra, von Yale eingeschüchtert? Da mir der Gedanke, Yale könnte in der Bar eine Barriere sein, unerträglich war, spielte ich mein Diplom herunter und sprach offen über meine miesen Noten und meine Entmannung durch Sidney, was die Stimmung tatsächlich deutlich verbesserte.
Als die Küche schloss, kamen die Leute aus dem Restaurant auf einen Absacker in die Bar, gefolgt von Kellnern und Kellnerinnen, die nicht mehr im Dienst waren und sich auf ihren ersten Cocktail des Abends freuten. Alle gratulierten mir, schmeichelten meiner Mutter, erinnerten sich an ihr eigenes Examen. Meine Cousine Linda kam und überreichte mir zwei Geschenke. Das erste war die Nachricht, dass McGraw in der folgenden Woche nach Hause kam. Er hatte gerade sein erstes Studienjahr am Nebraska College hinter sich, wo er ein Baseballstipendium erhalten hatte, und ich sehnte mich danach, ihn zu sehen. Ihr zweites Geschenk war ein silberner Stift von Tiffany. Linda kannte meine vage Hoffnung auf eine Schriftstellerlaufbahn. Meine Mutter wusste allerdings nichts davon oder zumindest wollte sie es nicht wahrhaben, und so führte Lindas Füllfederhalter zu dem Gespräch, das wir jahrelang vermieden hatten. In der geschützten Atmosphäre der Bar und übermütig vom Scotch gestand ich meiner Mutter schließlich, dass ich kein Anwalt werden wollte. Ein Jurastudium war nichts für mich. Ich war nicht für die Universität geeignet. Tut mir leid, sagte ich. Wirklich.
Meine Mutter hob die Hand. Moment, sagte sie. Immer langsam. Ihr Herzenswunsch war es nicht, dass ich Anwalt wurde. Sie hatte mich nur in diese Richtung gedrängt, sagte sie, weil ich einen Beitrag zur Welt leisten und mir eine Karriere aufbauen sollte, statt irgendwo die Stechuhr zu drücken. Egal, welchen Weg ich einschlagen würde, sie war glücklich, wenn ich es war. »Was willst du machen, wenn du nicht Jura studierst?«, fragte sie sanft.
Die Frage schwebte über unseren Köpfen wie der blaue Rauch. Ich blickte zur Seite. Wie sollte ich meiner Mutter beibringen, dass ich mir als Nächstes am liebsten einen Barhocker aussuchen und es mir im Publicans bequem machen wollte? Ich wollte Liars’ Poker spielen, Baseball sehen, wetten – und lesen. Ich wollte mich am Tresen einrichten, einen
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