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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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saß auf der Vortreppe und las. So auch an einem frischen, klassischen Oktobernachmittag, als der Briefträger mit einem verhängnisvollen rosa Briefumschlag die Auffahrt heraufkam. Ich erkannte die gedrechselte Handschrift aus sechs Metern Entfernung. Der Briefträger reichte mir den Umschlag, ich riss ihn in Stücke. Eine Minute später klebte ich die Stücke wieder zusammen. Sie vermisste mich, liebte mich, wollte mich abends in der Stadt zum Essen treffen.
    Ich schwor mir, nicht zu gehen. Ich las noch ein paar Seiten in meinem Buch, machte mir eine Tasse Tee, rief Sidney an und sagte ihr, ich würde kommen. Den Rest des Nachmittags verbrachte ich damit, mich zu schniegeln und im Badezimmerspiegel verschiedene Mimiken zu üben. Kühl. Ernst. Gelassen.
    Auf dem Weg zum Bahnhof schaute ich auf einen Sprung im Publicans vorbei, um mir Mut zu machen. Die einzige mir bekannte Person an der Theke war Fuckembabe. Er wollte wissen, wohin ich in meinen schicken Sachen unterwegs wäre.
    »Essen mit meiner Ex-Freundin«, sagte ich und verdrehte die Augen. »Ah, fuck’em, babe.«
    »Du sagst es, Fuckembabe.«
    »Fuck’em, babe. Fuck’em.«
    Fuckembabe kam ganz nah zu mir heran. Dann schenkte er mir ein Neun-Biere-Lächeln, und der Alkoholgeruch in seinem Atem zog mir fast die Schuhe aus. Aber ich zuckte nicht zurück, und das schien ihn zu rühren, so als empfinde er meine Standhaftigkeit als ein Zeichen von Loyalität. Dann erteilte er mir einen väterlichen Rat, den ich nie vergaß. »Ich war mal in ’ne junge, zickige Ricke verhummelt. Aber als sie meinen Zacken gehackt hat, hab ich ihr gesummt, dass ich das verfackt nochmal nicht mitmache, nein Sir, und hab sie lebenslang ins Rama-Lama-Ding-dong verbrummt. Schnallst du, was Sache ist?«
    Sidney wohnte nicht mehr bei ihren Eltern. Sie hatte eine Wohnung im Obergeschoss eines Reihenhauses auf der East Side. Als sie an die Tür kam, wurde ich ganz schwach. Sie war schöner als in meiner Erinnerung. Die braunen Augen, das herbstlich strohblonde Haar – es war erst zwei Monate her, aber ich hatte es schon vergessen. Ich sagte mir, dass man sich an Schönheit ebenso wenig erinnern kann wie sie sich beschreiben lässt.
    Im Restaurant bestellte ich einen Scotch. Sidney bestellte Wodka Tonic und kam sogleich auf den Punkt. Sie entschuldigte sich, weil sie mir erneut wehgetan hatte. Doch diese Entschuldigung war anders. Sie klang nicht nach dem üblichen Auftakt zu einer Versöhnung, womit ich gerechnet hatte. Sie redete über Erbsohn – seine Familie, seine Jacht, seinen Sinn für Humor – als sei er mehr als nur ein Freund, mehr als eine Affäre. Sie mochte ihn, sagte sie, aber mich mochte sie ebenfalls. Sie war hin- und hergerissen.
    Ich ertrug es nicht, die vielen Einzelheiten über Erbsohn zu erfahren. Der ganze Scotch im Publicans würde nicht reichen, um die Einzelheiten auszulöschen, die Sidney mir erzählte. Um das Thema zu ändern, fragte ich, was sie zurzeit mache. Für eine kleine Werbeagentur arbeiten, sagte sie, es gefiel ihr. Sie fragte, was ich zurzeit mache. Ich erzählte ihr von meinem Roman und seinem Arbeitstitel Erzählungen aus einer Kneipe an der Landstraße. Ich erzählte ihr von Smelly, der in der Bar ein Fleischmesser nach jemandem geworfen hatte, und dass die Klinge wie ein Tomahawk in der Wand stecken geblieben war. Vielleicht würde ich mit dieser Geschichte beginnen. Ich wusste, Sidney hielt nicht viel vom Publicans, aber mir fiel nichts anderes ein und ich wollte unbedingt das Thema vermeiden, bei dem sich ihr, wie ich wusste, der Magen umdrehen würde. Aber sie spürte, dass ich ihr etwas verschwieg und zielte voll auf den wunden Punkt.
    »Womit verdienst du dein Geld?«, fragte sie.
    »Ich jobbe.«
    »Wo?«
    »Nirgends. Kaum der Rede wert, nur so eine Notlösung.«
    »JR. Liebling. Wo arbeitest du?«
    »In der Abteilung Heimdekor bei Lord & Taylor.«
    »Welcher Dekor?«
    »He-heim.«
    Der Kellner kam und wollte unsere Bestellung aufnehmen, doch Sidney winkte ihn weg. »Wir brauchen noch etwas Zeit«, erklärte sie ihm. »Viel mehr Zeit.« Sie legte das Besteck gerade hin, faltete ihre Serviette neu und starrte auf das weiße Tischtuch, als wäre es die erste Seite einer Rede, die sie gleich halten wollte. Doch dann folgte weniger eine Rede als ein Klagelied. Wo bleibt dein Ehrgeiz? Was ist aus deinen Hoffnungen und Zielen geworden? Wozu hast du überhaupt in Yale studiert? Warum zum Teufel verkaufst du Kerzen und Kristall?
    »Weil ich

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