Tender Bar
ich sie am Ende gewinnen. Ich würde länger durchhalten als Erbsohn oder wer immer noch käme; Sidney und ich würden heiraten. Wir würden in einem Haus in der Nähe ihrer Eltern wohnen und zwei flachsblonde Kinder haben, und sobald sie gähnte oder im anderen Zimmer telefonierte, bekäme ich ein flaues Gefühl im Magen. Dieses Leben erwartete mich, es war genau geplant und vorbestimmt. Ich sah es vor mir aufragen wie die Leinwand in einem Autokino. Doch mich erwartete noch ein anderes Leben, ein Sidneyloses Leben, ebenfalls vorherbestimmt. Ich konnte es noch nicht sehen, aber dank der Times und der Mets und der Bar konnte ich es spüren und daran glauben. Ich hörte die Stimmen dieses anderen Lebens so deutlich wie die Stimmen hinter mir in der Bar. Ich erinnerte mich an Professor Luzifers Vortrag über den freien Willen versus Schicksal, jenes Rätsel, das große Denker seit Jahrhunderten beschäftigte, und ich wünschte, ich hätte besser aufgepasst, denn als ich jetzt vor meinem glücksbringenden Briefkasten stand und Sidneys Brief in den Schlitz hielt, fiel mir nicht mehr ein, warum Schicksal und freier Wille sich gegenseitig ausschlossen. Vielleicht, dachte ich, wählen wir frei, wenn wir an unseren Scheideweg gelangen, aber es ist immer eine Wahl zwischen zwei zum Scheitern verurteilten Leben.
Ich ließ den Umschlag fallen. Ich hatte Sidney noch nie einen Korb gegeben. Niemand hatte Sidney jemals einen Korb gegeben. Ich wusste, wenn sie ihren Brief samt Foto – zurück an den Absender, ohne Kommentar – erhielt, würde sie nie wieder Kontakt zu mir aufnehmen. Ich ging zurück ins Publicans, bat Onkel Charlie um einen weiteren Scotch und erzählte ihm, was ich getan hatte. Er zeigte auf meine Brust, und wir brachten einen Toast aus. Auf mich. Auf die Mets. Am 25. Oktober 1986, dem Tag, an dem ich meine große Liebe verlor, erklärte Onkel Charlie der ganzen Bar – keiner hörte zu, aber es war schön, wie er es sagte –, dass sein Neffe ein Gewinner sei.
30 | MR SALTY
Volontär bei der Times zu sein war nicht viel komplizierter als meine Tätigkeit als Verkäufer in der Abteilung Heimdekor. Eine Volontärin erklärte mir das Ganze in fünf Minuten. Meine Aufgabe bestand in »Sandwiches holen« und »Durchschläge trennen«. Da die Redakteure keine Zeit hätten, sich selbst ihre Mahlzeiten zu holen, sagte sie, müsse ich den ganzen Tag durch die Redaktion laufen, Bestellungen aufnehmen und dann über die Straße zu Al’s MI-Night Deli rennen. Den Rest meiner Zeit würde ich im Tickerraum verbringen, wo ich Papiere sammelte und sortierte. Bei der Times gab es zwar Computer, doch die Redakteure, besonders die älteren, weigerten sich, sie zu benutzen. Folglich war die Redaktion immer von Papier überflutet. Artikel, Essays, Bulletins, Telegramme, Mitteilungen, Geschichten und zusammengefasste Berichte, die als Material für die Titelseite des folgenden Tages angeboten wurden – alles kam stotternd und knatternd aus großen Druckern, in dicken Sätzen von zwölf Durchschlägen, die auseinander gerissen, auf eine bestimmte Weise gefaltet und verteilt werden mussten – und zwar schnell. Viele Redakteure hatten keine Ahnung von den durchschlagenden Neuigkeiten, solange nicht eine Mitteilung in ihrer Drahtablage landete – die Volontäre stellten daher ein unverhältnismäßig wichtiges Glied in der Informationskette dar. Noch wichtiger aber war: Die oberen Redakteure bekamen die oberen Kopien mit der lesbarsten Tinte, die unteren Redakteure bekamen die unteren, schwächsten und bisweilen unleserlichen Kopien. »Eine Statusfrage«, sagte die Volontärin. »Wenn ein unterer Redakteur eine obere Kopie kriegt, wirst du angeschrien – aber Gott gnade dir, wenn ein oberer Redakteur eine untere Kopie kriegt.«
Sie verdrehte die Augen und erwartete, dass ich meine ebenfalls ver-drehte. Aber ich war so froh über den Job, so beeindruckt, an der Times, dass meine überschäumende Freude durch nichts zu tilgen war. Du meinst, es liegt in meinem Verantwortungsbereich, all diese talentierten Journalisten zu versorgen? Und die berühmten Redakteure darüber zu informieren, was in der Welt vor sich geht?
»Klingt gut!«, sagte ich.
Von da an mied sie mich, und ich hörte, wie sie mich einer anderen Volontärin gegenüber einen »Trottel von Long Island« nannte.
Ein paar freundlichere Volontäre klärten mich über die Feinheiten des Ausbildungsprogramms auf. Es beinhalte, sagten sie, eine Reihe
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