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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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Sein »eigenes Würstchen« blitzte in der frühen Morgensonne weiß wie geschnitztes Walbein.
    Jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Das Universum sprach zu mir, so viel war klar, und es sagte, dass es mir nicht vorbestimmt war, bei der Times zu arbeiten. Die Zeichen kamen von überall, von meiner Begegnung mit Sidney bis zu dem tätlichen Angriff in New Haven. Und jetzt das. Das Universum gab mir zu verstehen, dass ich in der Times das Gleiche wäre wie der nackte Frost am Times Square – ein obszöner Eindringling. Als Polizisten über den nackten Frost herfielen und ihn abschleppten, wäre ich ihm gern zu Hilfe geeilt und hatte den Ordnungshütern erklärt, dass ihn keine Schuld treffe, weil er nur ein ahnungsloser Bote des Universums war. Ich empfand eher Sympathie für den Mann als Mitleid oder Verachtung. Zumal ich vermutlich mehr Alkohol im Blut hatte als er.
    In gewisser Weise war ich erleichtert. Wäre ich bei der Times gelandet, hätte ich bestimmt nie den Mut aufgebracht, jeden Tag in dieses Gebäude zu treten. Mir blieb nichts weiter übrig als die Straße zu überqueren, durch die Drehtür ins Marmorfoyer zu gehen und mich an den Wachmann zu wenden. Ich sagte ihm meinen Namen, reichte ihm meine Mappe und bat ihn, sie Marie in der Personalabteilung zu geben. Einen Moment, sagte er. Dann nahm er den Hörer ab, redete mit jemandem, legte auf. »Zweiter Stock«, sagte er zu mir.
    »Wie bitte?«
    »Zweiter Stock.«
    »Zweiter … ich? Nein, ich wollte nur die Mappe abgeben. Dazu muss ich sie nicht sehen. Ich will sie gar nicht sehen.«
    »Was soll ich sagen? Marie wartet auf Sie.«
    Das einzig Vernünftige wäre gewesen, wegzulaufen. Den nächsten Zug nach Manhasset zu nehmen, mich im Publicans zu verstecken und nie wieder zurückzublicken. Jetzt aber war ich angemeldet und konnte schlecht verschwinden. Marie würde mich für einen Spinner halten, und das fand ich unerträglich. Lieber sollte sie mich zerzaust und halb betrunken sehen als denken, ich sei labil.
    Auf der Fahrt in den zweiten Stock studierte ich mein Spiegelbild in den Messingtüren des Fahrstuhls. Ich hatte mir immer vorgestellt, die Redaktion in einem nagelneuen Anzug zu betreten, dazu glänzende schwarze Schnürschuhe, Hemd mit Haifischkragen, goldene Krawatte und passende Hosenträger. Stattdessen trug ich zerrissene Jeans, abgewetzte Slipper, ein T-Shirt mit Blutflecken. Und mein rechtes Auge war zugeschwollen.
    Alle Köpfe drehten sich um, als ich aus dem Aufzug trat. Ich sah aus wie ein gestörter Leser, der gekommen war, um ein Hühnchen mit einem Reporter zu rupfen. Ein Redakteur in der Nähe der Briefkästen kaute auf einer nicht angezündeten Zigarre und glotzte mich an. Seine Zigarre ließ mich an meinen Atem denken, der vermutlich sehr Fuckembabehaft war. Ich hätte zehn Jahre meines Lebens für ein Pfefferminzbonbon gegeben.
    Die Redaktion zog sich endlos dahin, eine neonbeleuchtete Prärie aus Metallschreibtischen und Männern. Zwar nehme ich an, dass 1986 auch Frauen in der Times arbeiteten, aber ich entdeckte keine. Bis zum Horizont sah ich nichts als Männer, gediegene Männer, gelehrte Männer, gepflegte Männer, verhutzelte Männer, die sich alle unter Regenwolken von Rauch tummelten. Die Szene war mir nicht unbekannt. Einen Mann kannte ich aus dem Fernsehen. Er war kürzlich in den Nachrichten gewesen, weil er ins Gefängnis ging, um einen Informanten zu schützen, außerdem war er für seine allgegenwärtige Pfeife bekannt, die er auch an jenem Morgen paffte. Ich wäre gern zu ihm getreten und hätte ihm gesagt, wie ich ihn dafür bewunderte, dass er zur Verteidigung des Ersten Verfassungszusatzes in den Knast gegangen war, doch das ging nicht, weil ich aussah, als käme ich auch gerade aus dem Knast – allerdings nicht, weil ich irgendwelche Verfassungszusätze verteidigt hatte.
    Ganz hinten im Redaktionsraum sah ich schließlich eine Frau, eine einsame Frau, die an einem winzigen Schreibtisch saß. Marie, kein Zweifel. Der Weg zu ihr dauerte eine Woche. Jeder, an dem ich vorbeiging, telefonierte, und ich war sicher, sie unterhielten sich über mich. Am liebsten hätte ich mich bei jedem einzeln dafür entschuldigt, dass ich diesen Ort schändete. Vor allem hätte ich mich gern bei Marie entschuldigt, die jetzt aufstand und mich mit einem derart besorgten Blick empfing, dass ich mich fragte, ob sie fünf Minuten, nachdem ich weg war, den Wachmann im Foyer würde feuern lassen. »Jay?«, sagte sie.
    »JR.«
    »Genau.«
    Wir

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