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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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kleinerer Demütigungen, gefolgt von ungleich größeren Belohnungen. Man holte Sandwiches, trennte Durchschläge, arbeitete nachts, an Feiertagen und Wochenenden, bis man einem Redakteur auffiel. Vielleicht fühlte er sich geschmeichelt, weil man nie vergaß, dass er seine Pastrami gern mit scharfem Senf aß. Vielleicht freuten ihn die scharfen Falzkanten, die man seinen Durchschlägen gab. Plötzlich war man sein Schützling und wann immer es möglich war, beauftragte er einen mit einem Autoreninterview für die Buchbeilage oder einer Zusammenfassung für den Immobilienteil. Erfüllte man diese Aufträge einigermaßen gut, folgten bessere. Eine Schießerei, ein entgleister Zug, ein Gasleck in der Bronx. Und einer dieser Aufträge konnte deine große Chance sein, die Geschichte, mit der dein Ruf in der Redaktion stand oder fiel. Nutzte man seine große Chance, kam man zur Probe in die Lokalredaktion. Dreißig Tage am Stück, nie dienstfrei, immer nur schreiben, ein Test für Durchhaltevermögen und Talent gleichermaßen. Die Probe war der Gral. Die Probe war der einzige Sinn, den das Volontärsdasein hatte. Überstand man die Probe körperlich und geistig, ohne irgendwelche Fehler – und vor allem, ohne der Zeitung Anlass für eine gefürchtete Berichtigung zu geben –, trat ein geheimer Ausschuss zusammen und entschied ein für allemal, ob man Times-tauglich war. Wenn ja, wurde man zum Reporter befördert und erhielt einen Schreibtisch und ein Gehalt. Wenn nicht, konnte man bleiben so lange man wollte und weiterhin Brötchen holen und Durchschläge trennen, bis man fünfundsechzig war, aber man blieb immer ein Volontär, ein Laufjunge, ein Schmarotzer, eine Unperson in der Redaktion.
    Angesichts dieser Lage und der unbarmherzigen Konkurrenz war es nicht verwunderlich, dass die zwei Dutzend Volontäre herumflitzten wie Ratten in einem Labyrinth. Trotzdem waren wir noch gelassen, verglichen mit den Redakteuren, von denen einige kurz vor einer massiven psychotischen Episode standen. Manche tranken Bier bei der Arbeit. Andere rannten zwischen den Ausgaben in eine Bar gegenüber, um sich etwas Stärkeres zu genehmigen. Und alle rauchten. Rauchen war nicht nur erlaubt, sondern Standard, und an den meisten Tagen war die Redaktion nebelverhangener als die Bucht vor Manhasset. Ein berüchtigter Redakteur begann den Tag mit einer Pfeife, wechselte im Laufe des Nachmittags zu Zigarren und in der Stunde vor Redaktionsschluss rauchte er Kette. Er sah aus wie 150 und machte den Volontären das Leben zur Hölle. Sein Spitzname war Smoky the Bastard, und ich wurde von mehreren Volontären gewarnt, mich so weit wie möglich von ihm fernzuhalten.
    Obwohl mich die Times an Yale erinnerte – zu viele kluge Leute auf beengtem Raum – ließ ich mich von der Atmosphäre nicht einschüchtern. Ich fühlte mich wie zu Hause, was meiner Ansicht nach an den verwarnen Möbeln, dem verfleckten rötlichen Teppich und den verstopften Toiletten lag. Meine Jahre bei Opa waren eine ideale Vorbereitung gewesen. Doch der wahre Grund für meine innere Ruhe war natürlich das Publicans. Ganz gleich, was tagsüber in der Redaktion geschah, ich wusste genau, am Abend erwartete mich die Bar. Ich konnte immer darauf zählen, dass die Männer im Publicans mich anspornten und die Frauen mir Modetipps erteilten. Alle Timesmänner tmgen hübsche Hosenträger, passende Krawatten und riesige Oxfords, so nahtlos gearbeitet wie Kanus, und auch wenn ich mir solche Sachen nicht leisten konnte, setzten sich meine Ex-Kolleginnen von Lord & Taylor im Publicans zu mir und gaben mir Hinweise zur Verbesserung meiner Garderobe. Sie empfahlen mir, in Kaufhäusern Sachen »auszuleihen«. Hosenträger und Krawatten, sagten sie, könne man »ausprobieren« und dann wieder zurückgeben. Außerdem könne ich immer »erfolgreich riechen«, wenn ich auf dem Weg zur Arbeit in ein Geschäft ging und mir ein paar Spritzer aus den Testflakons verpasste.
    Ich war wahnsinnig glücklich. Ich legte lange Stunden in der Redaktion ein und meldete mich freiwillig zu Überstunden. Selbst an freien Tagen schaute ich in der Zeitung vorbei und tat so, als gehörte ich dazu, spielte den Vielbeschäftigten. Wenn ich nichts zu tun hatte, ging ich ins Archiv, wo die Times jeden Artikel bis zurück zum Bürgerkrieg aufbewahrte. Ich las mit Namen versehene Artikel von Starreportern und studierte ihren Stil. Einer Laune folgend, fragte ich eines Tages die Leiterin des Archivs, ob sie eine Mappe

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