Tender Bar
erwiderte, konnte ich nicht hören, aber sein Tonfall klang nicht sehr freundlich. Der Redakteur kam wieder ans Telefon. »Danke für den Anruf«, sagte er. »Danke, dass ich Ihretwegen in der Seite-eins-Sitzung war wie ein Bekloppter, und das mit einem Fehlalarm. Warum nehmen Sie sich für heute nicht frei? Kaufen Sie sich eine Brezel, okay, Mr Salty?«
Freizeichen.
Mr Salty? Ich hoffte nur, dieser Spitzname würde nicht für immer an mir hängen bleiben. Selbst Guillermo Winger wäre mir noch lieber gewesen.
Der Zug nach Manhasset blieb gleich außerhalb der Penn Station im Güterbahnhof stehen. Die Lichter erloschen und in den nächsten zwei Stunden rührte sich nichts. Ich saß im Dunkeln und ließ meinen Tag immer wieder Revue passieren. Pfeifen in der Redaktion bringt Unglück – Dumpfbacke! Kaufen Sie sich eine Brezel, okay, Mr Salty? Als der Zug schließlich weiterfuhr und ich endlich das Publicans erreichte, war es halb neun, aber ich ging nicht durch die Tür – ich stürzte hinein.
Joey Ds Cousin Michael stand hinter der Theke, was mich sehr freute. Michael war genau der richtige Mann, der ideale Barkeeper für meine Stimmung. Ich brauchte Ablenkung, neue Themen, die mir den Kopf füllten, und Michael war ein regelrechter Grossist für neue Themen. Als einziger nüchterner Mann im Publicans – er hatte dem Alkohol seit Jahren abgeschworen – war Michael immer bei klarem Verstand und sprudelte vor interessanten Fakten und Ideen, die er aus seiner reichhaltigen Lektüre sammelte. Außerdem war er bemerkenswert griesgrämig, und auch das gefiel mir ziemlich gut. Er sah aus wie ein kürzlich in Dienst genommener Ulysses Grant: furchterregend, bärtig, stoppelhaarig, stets auf Zigarren versessen. Mehr denn je wollte ich bei General Grant sitzen und mit ihm über die ganze verdammte Kampagne klagen. Noch ehe ich auf dem Hocker saß, war General Grant wie der Blitz aus den Startlöchern, erzählte von Donald Trump und Caspar Weinberger und Babe Ruth und Marla Hanson und John Gotti und Carlo Gambino und den Erzherzog Franz Ferdinand und der Achille Lauro und Verkehrskollaps und Quarks und Ozonabbau und wofür die Initialen W. B. in Yeats Namen standen. Allmählich legte sich der beißende Geruch nach verbrannten Brezeln.
Am anderen Ende der Theke bediente Joey D. Ich winkte ihm zu, aber er sah durch mich hindurch, als wäre er hypnotisiert. Wie immer redete er, obwohl im Umkreis eines halben Meters keine Menschenseele war. Eine intensive Unterhaltung mit seiner Kuschelmaus, nur sah es diesmal so aus, als würde seine Maus ihm widersprechen. Ich fragte General Grant, was mit seinem Cousin los sei. »Wahrscheinlich hat er Josie gesehen«, sagte er und wischte die Theke mit einem Tuch sauber.
»Oh nein«, sagte ich. »Ist sie heute Abend hier?«
Er nickte genervt.
Joey D und Josie waren seit kurzem geschieden, und da es keine freundschaftliche Trennung war, achtete der Dienstplanersteller peinlichst darauf, die beiden nicht gemeinsam einzuteilen. An manchen Abenden jedoch ließ es sich wegen Krankheit oder Urlaub nicht vermeiden – dann mussten die beiden in einer Schicht arbeiten. Joey D glich an solchen Abenden eher einem Leichenbestatter als einem Barmann. Während er zusah, wie Josie zwischen den Tischen herumscharwenzelte, erzählte er den Gästen leise, wie sie ihn angeschmiert hatte. An einem besonders unangenehmen Josie-Abend belegten die Männer Joey Ds Thekenende mit dem Spitznamen Bier-muda-Dreieck. Man ging hin, um etwas zu trinken und ward nie wieder gesehen – verschwunden im Strudel von Joey Ds unglückseliger Geschichte.
Onkel Charlie gab sich an allem die Schuld. Er und Pat hatten die beiden seinerzeit zusammengebracht. Die schlimmste Wette meines Lebens, sagte Onkel Charlie, wenn Joey D wegen Josie jammerte und lamentierte. Andere Barmänner verdrehten die Augen hinter Joey Ds Rücken und scherzten über »Josie und das Muschikatzenjammerkid«. Selbst Steve, der Joey D wirklich gern mochte, verlor mitunter die Geduld. Mindestens einmal zitierte er Joey D zu sich in den Keller und ermahnte ihn, endlich erwachsen zu werden. »In einer Bar kannst du dich nicht so aufführen«, sagte Steve. »Das deprimiert die Leute. Es wird Zeit, dass du ein Mann wirst, Joey D. Sei ein Mann.« Als ich erfuhr, dass Steve Joey D zur Minna gemacht hatte, schauderte ich. Lieber würde ich mich auf die Folterbank spannen lassen, dachte ich, als mich von Steve in den Keller rufen zu lassen und mir eine
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