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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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gaben uns die Hand.
    Sie wies auf einen Stuhl und nahm hinter ihrem Schreibtisch Platz. Dann strich sie ein paar Umschläge glatt, steckte einen Bleistift in einen Bleistiftbecher und legte einen Stapel Papier in den Ausgangskorb. Ich war mir sicher, dass Marie im Beurteilen von Menschen genauso schnell war und jeden sofort in die richtige Schublade packte. Schließlich wandte sie sich mir zu und wartete auf eine Erklärung. Ich überlegte, ob ich lügen sollte, aber dazu fehlte mir die Kraft. Ich überlegte, ob ich einfach nur lächeln sollte, aber ich wollte nicht, dass meine lädierte Lippe wieder anfing zu bluten. Außerdem fühlte sich ein Zahn wackelig an. Mir blieb nichts weiter übrig, als ihr alles von dem Überfall zu erzählen. Ich wollte fast noch hinzufügen, dass ich eigentlich sogar zweimal überfallen worden war, wenn man Sidney mitzählte, entschied mich aber dagegen und versuchte vernünftig zu sein. Als ich fertig war, tippte Marie mit ihrem langen Fingernagel auf den Schreibtisch. »Sie wissen wirklich, wie man eine Geschichte erzählt«, sagte sie. »Das muss ich Ihnen lassen.«
    Ich bat sie, es nicht als Respektlosigkeit aufzufassen, dass ich in diesem Zustand auftauchte. Ich erklärte ihr das Missverständnis mit dem Wachmann. Ich sagte ihr, dass ich die Times liebte und verehrte, dass ich jedes greifbare Buch über die Geschichte der Times las, einschließlich der nicht mehr lieferbaren Memoiren von muffigen alten Redakteuren. Während ich ihr meine Gefühle für die Times zu erklären versuchte, verstand ich sie plötzlich selbst besser. Mir dämmerte, warum mich die Times seit meiner Jugend faszinierte. Sicher, die Zeitung lieferte ein klar dargestelltes, schwarzweißes Weltbild, aber sie lieferte auch jene flüchtige Brücke zwischen den Träumen meiner Mutter und meinen eigenen. Journalismus bot genau die richtige Mischung aus Korrektheit und Rebellion. Reporter der Times trugen, genau wie Anwälte, Anzüge von Brooks Brothers und lasen Bücher und führten Kreuzzüge für die Unterdrückten – aber sie tranken auch viel und erzählten Geschichten und gingen in Bars.
    Doch dies war nicht der geeignete Augenblick für eine Offenbarung. Die Anstrengung, mich zu erklären, mich selbst zu verstehen und überschwänglich für mich zu entschuldigen – und dabei die ganze Zeit zu versuchen, meinen Tequila-Atem weit von Maries Nase wegzuhalten – ließ mich erbleichen. Außerdem blutete meine Lippe wieder. Marie reichte mir ein Papiertuch und fragte, ob ich ein Glas Wasser möchte. Sie sagte, ich solle locker bleiben. Ganz locker. Ein junger Mann, der so offensichtlich keinen Wert auf Äußerlichkeiten lege, sagte sie, der so offen für Abenteuer sei, der sich so für die Times begeistere und so viel über ihre Tradition wisse, gebe bestimmt einen guten Reporter ab. Im Grunde, sagte sie, sähe ich aus, als ob ich das Zeug zum Kriegskorrespondenten hätte. Auf jenem Stuhl vor ihrem Schreibtisch sah sie offenbar mehr als einen einundzwanzigjährigen Neurotiker von Long Island mit einem blauen Auge und einem Kater und einer Mappe voller schrecklicher Artikel. Eines stünde für sie fest, sagte sie, ich sei »erfrischend«.
    Marie starrte mich eine ganze Weile an und dachte nach. Sie wog zwei Möglichkeiten ab, das merkte ich. Sie blinzelte zweimal und wählte Möglichkeit B. Sie sagte, es gebe ein Protokoll für Neueinstellungen. Es stünde nicht in ihrer Macht, mir sofort eine Stelle anzubieten. Redakteure müssten befragt, Vorschriften eingehalten werden. »Trotzdem muss ich sagen«, meinte Marie, »Sie haben den richtigen Zuschnitt.«
    Ich kannte den Ausdruck nicht. Sprach sie von meinem Äußeren? Ich überlegte, wie ich darauf reagieren sollte, doch Marie war schon auf den Beinen und reichte mir wieder die Hand. Falls nicht etwas Unvorhergesehenes passiere, sagte sie, könne sie mich bald in der New York Times willkommen heißen.
    Als ich zwei Stunden später mit meiner Neuigkeit ins Publicans platzte, war der ganze Laden aus dem Häuschen. Endlich, sagten die Männer, mache ich etwas aus meinem Leben. Aufs College zu kommen, war in Ordnung. Examen bestehen schön und gut. Aber die Times war eine echte Leistung. Zeitungsmänner wie Jimmy Cannon, Jimmy Breslin, A.J. Liebling, Grantland Rice galten als Kneipengötter, und dass man mich in ihren Stand aufgenommen hatte, verdiente lauten Jubel und ungestüme Umarmungen.
    Onkel Charlie zerdrückte mir fast die Hand, als er mir gratulierte, doch

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