Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
Vom Netzwerk:
ich mir auf die Zunge biss und einen Blick auf die bisher von ihm gesammelten Namen warf. Joker, Riddler, Puzzler, King Tut. Mich erinnerte das an die Liste mit den Namen, die man nicht zu Onkel Charlie sagen durfte. »Was ist mit Bookworm?«, fragte ich.
    »Bookworm!«, sagte Colt und schlug sich an die Stirn. »Den hab ich ganz vergessen.«
    Onkel Charlie war jetzt da. Er riss das Zellophanpapier von einer frischen Marlboro-Packung und bestellte bei General Grant einen Wodka mit einem Schuss Cranberry, dann legte er eine Hand an die Schläfe. »JR«, sagte er, »heute ist mir beim Lesen das Wort ›nestflüchtend‹ untergekommen. Was heißt das?«
    Ich zuckte die Schultern.
    Onkel Charlie bat um das Buch der Wörter. General Grant fasste hinter die Theke und holte einen wunderschönen alten Wälzer von einem Regalbrett, der von allen nur das Buch der Wörter genannt wurde, oft mit einem Hauch von Verehrung, als handle es sich um das Book of Kells. General Grant legte das Buch vor Onkel Charlie hin, der die Seiten durchblätterte und verkündete, unter »nestflüchtend« stünde: »das Nest kurz nach dem Schlüpfen verlassen«. Er fand die Definition herrlich. Ich war jetzt zwischen Onkel Charlie und Banker eingekeilt, mit einem kalten Bier, wir unterhielten uns über Wörter, und ich war so glücklich, dass ich mich am liebsten nie wieder vom Fleck bewegt hätte. Aber ich musste pinkeln.
    Auf dem Männerklo meinte ich zu halluzinieren. Beide Urinale quollen von Kleingeld über. Fünfdollar- und Eindollarscheine, Vierteldollarstücke. Als ich wieder in die Bar kam, fragte ich Onkel Charlie danach. Er runzelte die Stirn. »Don hat mit dem Unsinn angefangen«, sagte er.
    Don, ein in Princeton studierter Anwalt, gehörte zu Onkel Charlies ältesten Freunden. Ein paar Abende zuvor, sagte Onkel Charlie, sei Don die Idee gekommen, es wäre gutes Karma, bei jedem Toilettenbesuch einen Obulus zu entrichten. »Irgendwas von wegen die Pinkelgötter beschwichtigen«, sagte Onkel Charlie und seufzte. »Jedenfalls zahlen jetzt alle. Neue Tradition.«
    »Wünschen sich die Leute etwas, wenn sie Geld reinwerfen? Wie bei den Münzen im Brunnen?«
    »Woher soll ich wissen, was die Leute auf dem Klo treiben? Himmel, was für eine Frage! Aber eins will ich dir sagen. Don passt genau auf und führt Liste, wie viel Geld daliegt, bevor irgendein Irrer zulangt und sich was einsteckt. Und irgendwann bedient sich immer einer. Die menschliche Natur, du weißt schon. Von wegen ›schnöder Mammon‹«.
    Die Barmänner waren nicht gerade glücklich über den Don-Fonds. Sie hatten panische Angst, dass mit Geld aus den Pissbecken bezahlt wurde, und da jeder wusste, wie sehr die Barmänner auf der Hut vor nassem Geld waren, hielten Knauser und Blender Fünfdollarscheine unter den Wasserhahn, bevor sie sie auf die Theke legten. »Wenn du mit einem nassen Fünfer zahlst«, sagte Onkel Charlie aus dem Mundwinkel, »hast du gute Chancen, dass dein Drink aufs Haus geht.«
    Ich lachte und sagte zu Onkel Charlie, während ich ihm einen Arm um den Hals legte, wie gut ich mich fühlte. Nein, besser als gut. Supergut. Ich sagte ihm, noch vor kurzem hätte ich mich nicht gut gefühlt, aber jetzt – bestens. Warum? Weil mich das Publicans ablenkte. Ablenkung, sagte ich. Wir alle brauchen Ablenkung, und das Publicans bietet sie wie nichts und niemand sonst. Doch Onkel Charlie hörte mir nicht zu, weil plötzlich Don vor uns stand. »Verdammt nochmal«, sagte Onkel Charlie, »wenn man den Teufel nennt … Eben haben wir von dir gesprochen.« Er stellte mich Don vor, der Onkel Charlies Alter und Größe hatte. Aber damit endete die Ähnlichkeit. Onkel Charlie hatte erwähnt, dass Don früher Ringer war, und das sah man ihm noch an. Ihm haftete jene Festigkeit und Stärke an, jener permanent tiefergelegte Mittelpunkt. Außerdem hatte er das offenste und freundlichste Gesicht in der Bar, mit nach oben geschwungenen Brauen und leuchtend roten Adern auf jeder Wange, wie bei einem Spielzeugsoldaten aus Holz. Ich fand ihn auf der Stelle liebenswert und sympathisch und verstand genau, warum er auf Onkel Charlies Liste ganz oben stand.
    Ich erklärte Don, was ich eben Onkel Charlie gesagt hatte, dass im Publicans jenes unterschätzte menschliche Bedürfnis gestillt wurde – Ablenkung. Ablenkung sei das Ein und Alles, sagte ich zu Don, und er stimmte mir voll zu. Die Bar habe ihm durch so manch schwere Zeit in seinem Leben geholfen, sagte er, besonders vor einigen

Weitere Kostenlose Bücher