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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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Vermisste – die Häfen und Flüsse waren tragische Fundgruben, und Bob the Cop verarbeitete sie, indem er Geschichten erzählte.
    Im Publicans wimmelte es von Geschichtenerzählern, doch niemand konnte uns so in Bann halten wie Bob the Cop. Zum Teil lag es daran, dass wir Angst hatten. Wenn wir nicht mehr zuhörten, würde er uns dann schlagen? Doch es lag auch an seiner Vortragsweise, die demselben Muster verpflichtet war wie Hemingways nüchterner Stil. Bob the Cop verschwendete weder Zeit noch Energie. Er skizzierte Schauplätze und Figuren mit möglichst wenig Worten, Betonung und Mimik, weil er, genau wie Hemingway, keine Ausschmückungen brauchte. In festem Vertrauen auf die Spannung seiner Geschichte redete Bob the Cop in einem monotonen Tonfall und behielt die gelassene Miene eines Falschspielers bei, wodurch beim Zuhörer eine gewisse Unsicherheit entstand, was ihn wohl erwartete. Man wusste nicht, ob die Geschichte in Richtung Tragödie oder Komödie ging, bis Bob the Cop wollte, dass man es wusste. Und die Krönung des Ganzen war sein schwerer New Yorker Akzent. Es war die richtige Stimme zur Beschreibung der Unterwelt, in der er sich bewegte und in der es von Nutten und Schwindlern, billigen Politikern und Auftragskillern nur so wimmelte – eine Comichefthölle, in der irgendwer immer einen Fehler beging, den ein anderer teuer bezahlen musste. Ob er von einem Flugzeug erzählte, das aufgrund eines Pilotenfehlers in den East River gestürzt oder von einem verdeckt arbeitenden Beamten, durch dessen dummen Schnitzer ein Täter entwischt war – Bob the Cops Akzent schien dem Vorfall immer angemessen.
    Meine liebsten Geschichten jedoch waren die über seine Kinder. Er erzählte mir, wie er einmal seinen fünfjährigen Sohn auf dem Polizeiboot mitnahm. Er rechnete mit einem ruhigen Tag, doch dann stürzte ein Helikopter in den Fluss, und Bob the Cop raste zum Unglücksort, um Überlebende aus dem Wasser zu ziehen. Später am Abend, als er seinen Sohn ins Bett brachte, war der Junge ganz aufgelöst. »Ich will nicht mehr mit dir zur Arbeit gehen«, sagte sein Sohn. »Warum denn nicht?«, fragte Bob the Cop. »Weil ich keine Leute retten darf.« Bob the Cop dachte nach. »Was hältst du von folgendem Vorschlag?«, sagte er zu seinem Sohn. »Du gehst mit mir zur Arbeit, und wenn etwas Schlimmes passiert, darf ich die großen Leute retten und du die kleinen.«
    Als Bob the Cop aufhörte, Geschichten zu erzählen, um einem anderen Gast zuzuhören, beugte ich mich zu Onkel Charlie. »Du hast recht, Bob the Cop ist in Ordnung«, sagte ich. »Schwer in Ordnung.«
    »Ich lüge nie.«
    »Und was wird gemunkelt?«
    Onkel Charlie legte sich einen Finger auf die Lippen.
     
     
     
     
32 | MARVELOUS MARVIN
     
    Onkel Charlie schuldete jemandem Geld, und zwar einen so hohen Betrag, dass er, wie ich erfuhr, kaum die Zinsen für den Einsatz zahlen konnte. »Zinsen?«, fragte ich Cager.
    Er nahm seine Schildkappe ab und kratzte sich das rote Haar. »Die Zinsen beim Wetten sind so was wie die Finanzierungsgebühren deiner Visa-Karte«, sagte er. »Mit dem Unterschied, dass dir diese Visa die Kniescheiben zertrümmert, wenn du nicht rechtzeitig zahlst.«
    Onkel Charlie lief schon jetzt wie ein Flamingo mit Knieschaden. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie er erst gehen würde, wenn er seinen Gläubigern in die Finger kam. Sheryl zufolge, die Nachforschungen an der Theke angestellt hatte, schuldete Onkel Charlie der Mafia hunderttausend Dollar. Joey D sagte, es sei wohl eher halb so viel, und die Gläubiger seien auch keine Mafiosi, sondern gehörten bloß einem lokalen Syndikat an. Ich fragte mich, wo der Unterschied lag und ob Mr Sandman noch immer auf der Bildfläche war.
    Onkel Charlies Schulden machten mir Sorgen, und besonders große Sorgen machte mir seine Weigerung, sich Sorgen zu machen. Er stakste hinter der Theke herum und sang zur Doo-Wop-Musik aus der Anlage mit. Als ich eines Abends sah, wie er hinter der Theke hervortanzte und durch die Bar wirbelte wie ein Tango tanzender Flamingo, bildete ich mir ein, ihn verstehen zu können. Nachdem Onkel Charlie seine Haare und Pat verloren hatte, glaubte er nicht mehr an dauerhaftes Glück mit Karriere, Frau und Kindern, und so begnügte er sich mit kurzen Freudenausbrüchen. Jede Sorge oder jeder vernünftige Gedanke, die seinem Freudenausbruch in die Quere kamen, ignorierte er.
    Diese Freudenstrategie um jeden Preis, die geradezu wahnhaft war, führte dazu, dass er

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