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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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wurde wie sie. Wir alle mussten uns vorwerfen lassen, unser Herz an Sportler zu hängen. Onkel Charlie aber schenkte ihnen seine Seele. Als ich sah, wie er sich für Leonard ereiferte, wurde mir schlagartig bewusst, wie gefährlich es war, sich mit jemandem zu identifizieren – ganz zu schweigen mit Verlierern. Trotzdem konnte ich mir keine Sorgen mehr um Onkel Charlie machen, denn es war halb sechs Uhr früh und ich hatte meine eigenen Probleme.
    Nach fast fünf Monaten bei der Times holte ich immer noch Sandwiches, trennte immer noch Durchschläge, war immer noch der berüchtigte, lächerliche Mr Salty. Ich hatte ein paar Miniberichte geschrieben und Notizen zu einer stumpfsinnigen Zusammenfassung der Fanfeiern beigesteuert, nachdem die New York Giants den Super Bowl gewonnen hatten. Ein »unheilträchtiges Debüt« hatte Onkel Charlie es genannt. Ich hatte gehofft, die Times würde mein Selbstvertrauen wiederherstellen, doch stattdessen raubte sie mir noch das wenige, das mir geblieben war. Und als wäre das nicht schlimm genug, wollte mich die Zeitung auch noch meines Namens berauben.
    Ein wichtiger Redakteur rief mich in sein Büro. Er war ein großer Mann mit großer Brille und großer Fliege, und er hatte ein großes Problem mit mir. Von der Lokalredaktion war ihm zu Ohren gekommen, ich hätte darauf bestanden, in der Namenszeile als JR Moehringer zu erscheinen, ohne Punkte. Ein Volontär, der auf etwas bestand? Ketzerei! »Stimmt das?«, fragte er.
    »Ja, Sir.«
    »Ohne Punkte? Sie möchten in der Unterteile als JR Moehringer ohne Punkte erscheinen?«
    »Ja, Sir.«
    »Wofür steht JR?«
    Ruhe bewahren, sagte ich mir. Ich sollte dem Redakteur meine dunkelste Wahrheit verraten, und mir war klar, was geschehen würde, wenn ich ihm den Gefallen tat. Er würde verfügen, dass ich fortan in der Unterzeile mit meinem Geburtsnamen erschien: John Joseph Moehringer Jr. Die Männer im Publicans würden dann meinen richtigen Namen kennen und keiner würde mich mehr JR oder Kleiner nennen. Ich wäre Johnny oder Joey – oder Junior. Das bisschen Identität, das ich mir im Publicans erkämpft hatte, wäre verschwunden. Und immer wenn ich das Glück hatte, eine Unterzeile in der Times zu ergattern, stünde da der Name eines anderen. Der Name meines Vaters, eine Erinnerung an und eine Ehre für ihn. Das durfte ich nicht zulassen.
    »JR«, antwortete ich dem Redakteur mit flauem Magen, »steht für nichts.«
    »JR sind nicht Ihre Initialen?«, fragte er.
    »Nein, Sir.«
    Gerade noch entwischt. Und das ohne zu lügen, denn JR waren nicht meine Initialen.
    »Ihr offizieller Vorname ist JR? Nur ein J und ein R?«
    »Ja, Sir.«
    Warum hatte ich nur die fünfundsiebzig Dollar vertrunken, die mir meine Mutter für die Namensänderung geschickt hatte?
    »Ich muss der Sache nachgehen«, sagte der Redakteur. »Irgendwie sieht es falsch aus. JR. Ohne Punkte. Ich komme auf Sie zurück.«
    Später am Abend erzählte ich Onkel Charlie im Publicans von meiner Unterredung mit dem Redakteur.
    »Warum hast du ihm nicht einfach deinen Namen gesagt?«, fragte er.
    »Die Leute sollen nicht wissen, dass ich nach meinem Vater benannt bin.«
    »Wer ist nach wessen Vater benannt?«, fragte Colt.
    Ich warf Onkel Charlie einen flehenden Blick zu. Er spitzte die Lippen. Colt sah Onkel Charlie an. Dann mich. Onkel Charlie zuckte die Schultern. Colt verlor das Interesse.
    Das war das Tolle an Colt.
    Der Redakteur blickte mich finster an, als hätte ich ihm Corned Beef statt Thunfischsalat gebracht. Schon zehn Minuten hatte er auf mich und meinen Namen verwendet, doppelt soviel Zeit wie er jemals einem Volontär geschenkt hatte. »Ich habe ein bisschen nachgeforscht«, sagte er. »Wie es aussieht, gibt es einen Präzedenzfall. Wussten Sie, dass Harry S. Truman keinen Punkt hinter seine mittlere Initiale setzte?«
    »Nein, Sir, das wusste ich nicht.«
    »Das S stand für nichts. Und e.e. cummings? Ebenfalls keine Punkte.«
    »Verstehe.«
    »Aber wir haben ihnen nun mal Punkte gegeben. Dem Präsidenten, dem Dichter, wir haben ihnen Punkte gesetzt, ob es ihnen passte oder nicht. Und wissen Sie warum? Weil das Times-Stil ist. Und wissen Sie warum? Weil es sonst lächerlich aussieht. Und wir denken nicht daran, wegen eines Volontärs mit einem Präzedenzfall zu brechen oder mit dem Times-Stil, nicht wahr? In Zukunft sind Sie J Punkt R Punkt Moehringer.«
    Der Redakteur schrieb einen Vermerk in eine Mappe, vermutlich meine Personalakte. Dann blickte er auf,

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