Tender Bar
Liebe weiter, sagte meine Mutter, als hätte er Angst, sie könnte eines Tages knapp werden. Als sie, Tante Ruth und Onkel Charlie aufwuchsen, hatte er sie alle drei ignoriert und ihnen nie Aufmerksamkeit oder Liebe geschenkt. Sie beschrieb einen Familienausflug zum Strand, als sie fünf war. Als sie sah, wie lieb der Vater ihrer Cousine Charlene mit seinen Kindern spielte, bat meine Mutter Opa im Wasser, sie auf seine Schultern zu setzen. Das machte er auch, trug sie dann aber über die Wellen hinaus, und als sie weit draußen waren und meine Mutter kaum noch den Strand sehen konnte, bekam sie Angst und flehte ihn an, er möge sie absetzen. Da warf er sie ins Wasser. Sie ging unter, landete auf dem Grund, schluckte Salzwasser. Sie kämpfte sich wieder an die Oberfläche, schnappte nach Luft und sah Opa – lachen. Du wolltest doch abgesetzt werden, sagte er zu ihr, ohne ihre Tränen zu beachten. Als meine Mutter allein aus der Brandung schwankte, hatte sie eine frühreife Eingebung: Ihr Vater war kein guter Mensch. Mit dieser Erkenntnis, sagte sie zu mir, kam eine große Erleichterung. Sie fühlte sich unabhängig. Ich fragte sie, was »unabhängig« bedeute. »Frei«, sagte sie. Dann starrte sie wieder auf die abblätternde Tapete und sagte noch einmal, diesmal etwas leiser: »Frei.«
Doch da war noch eine Sache, die tiefer ging. Opa hatte meiner Mutter und Tante Ruth verboten, ein College zu besuchen, und das zu einer Zeit, als es weder Studentendarlehen noch finanzielle Hilfen gab, sie waren also von ihm abhängig. Mehr noch als seine fehlende Liebe war dies der Schlag, der die Lebensbahn meiner Mutter veränderte. Sie hatte sich danach gesehnt zu studieren und eine aufregende Karriere anzutreten, und diese Chance hatte Opa ihr versagt. Mädchen werden Frauen und Mütter, erklärte er, und Frauen und Mütter müssten nicht studieren. »Darum sollst du die Bildung genießen, die mir vorenthalten wurde«, sagte meine Mutter. »Harvard oder Yale, Liebling. Drunter geht nichts.«
Eine haarsträubende Bemerkung seitens einer Frau, die zwanzig Dollar pro Tag verdiente. Aber damit gab sie sich nicht zufrieden. Nach dem College, fügte sie hinzu, würde ich Jura studieren und Anwalt werden. Ich wusste nicht, was ein Anwalt war, aber es klang schrecklich langweilig, und ich nuschelte etwas in der Art. »Nein, nein«, sagte sie. »Du wirst Anwalt. Dann kann ich dich engagieren, um deinen Vater auf Unterhaltszahlung zu verklagen. Ha.« Sie lächelte, sah aber nicht aus, als würde sie scherzen.
Ich versetzte mich in die Zukunft. Wenn ich Anwalt wäre, könnte meine Mutter ihren lange verschobenen Traum verfolgen und studieren. Das wünschte ich mir für sie. Und wenn sich das bewerkstelligen ließ, indem ich Anwalt wurde, wollte ich einer werden. Unterdessen hatte ich vergessen, dass ich mich mit Opa anfreunden wollte.
Ich rollte mich auf die Seite, weg von meiner Mutter, und versprach ihr, sie von meinem ersten Gehalt als Anwalt aufs College zu schicken. Ich hörte, wie sie nach Luft schnappte oder schluckte, als würde sie sich vom Meeresgrund nach oben kämpfen, und dann spürte ich ihre Lippen auf meinem Hinterkopf.
5 | JUNIOR
Ein paar Tage vor meinem achten Geburtstag klopfte es an Opas Tür und die Stimme kam von einem Mann, der im Durchgang stand. Die Sonne schien hinter ihm und blendete mich, sein Gesicht war also nicht zu erkennen. Nur die Konturen seines Oberkörpers konnte ich sehen, einen wuchtigen muskulösen Block in einem weißen T-Shirt, der auf O-Beinen saß. Die Stimme sah aus wie ein riesiger Zahn.
»Willst du deinen Vater nicht umarmen?«, fragte die Stimme. Ich streckte die Arme aus und versuchte ihn zu umklammern, aber seine Schultern waren zu breit. Als wollte man eine Garage umarmen. »Das ist keine Umarmung«, sagte er. »Du sollst deinen Vater richtig umarmen.« Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und drückte. »Fester!«, sagte er.
Aber ich konnte nicht fester. Ich hasste mich für meine Schwäche. Wenn ich meinen Vater nicht fest genug umarmen und halten konnte, würde er nicht mehr wiederkommen.
Nach einer kurzen Beratung mit meiner Mutter, die mich die ganze Zeit verstohlen ansah, sagte mein Vater, er werde mit mir in die City zu seiner Familie fahren. Unterwegs unterhielt er mich mit einem atemberaubenden Babel von Akzenten. Die Stimme war offenbar nicht seine einzige Stimme. Neben seiner Arbeit als Alleinunterhalter, sagte er, sei er früher auch
Weitere Kostenlose Bücher