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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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alle gierten, hatte ihn sitzen lassen. Oft kam er abends mit seiner Gitarre ins Publicans und sang traurige spanische Liebesballaden – er klang ein bisschen wie Neil Young – während Dalton einer aschblonden Schönheit aus dem Upper Hudson Valley, die er angeblich heiraten wollte, Rilke rezitierte. Sogar Onkel Charlie hatte in jenem berauschenden Frühjahr eine Freundin. Er beugte sich in die Telefonzelle und sang ihr »My Funny Valentine« ins Ohr. Er hielt es nicht für nötig, die Tür zu schließen, und so mussten wir alle mithören. Er hielt es auch nicht für nötig, auf die Uhr zu sehen, und seine Freundin war nicht gerade begeistert, wenn sie morgens um zwei geweckt wurde. Als sie ihm das mitteilte, hörte er auf zu singen und rüffelte sie, weil sie ihn schimpfte, dann sang er weiter, und das Ganze Hang in etwa wie: »›My Funny Valen‹ – halt die Klappe! ›Sweet comic Val‹ – sei endlich still! ›You make me smile with my‹ – halt die Luft an, wenn ich dir schon ein Ständchen bringe, du Zicke!«
    Wie die Traubenkirschen und Robinien entlang der Bucht von Manhasset erblühten wie über Nacht viele frische Frauen in der Bar. Onkel Charlie und ich sahen sie überall um uns herum auftauchen. »Woher kommen sie alle?«, fragte er. »Woher kommen sie, J.R., und wohin gehen sie alle?« Es war eine abstrakte Frage, existenziell gemeint, Tatsache aber war, dass viele von ihnen aus Helsinki und London kamen, um bei wohlhabenden Familien in der Stadt als Au-pair zu arbeiten. Andere waren neue Verkäuferinnen bei Lord & Taylor. Und mindestens ein Dutzend waren neue Schwestern in der Notfallambulanz des North Shore Hospitals. Außerdem waren da jede Menge Collegestudentinnen und Doktorandinnen, die bei ihren Eltern wohnten, bis sie in der City eine passende Wohnung fanden. Zu Letzteren gehörte Michelle.
    Sie hatte pechschwarzes Haar und warme braune Augen mit einem zimtbraunen Fleck in der Mitte. Ihre Stimme war rauchiger als die Bar, und das ließ sie stark klingen, was sie auch war, obwohl sie auch schüchtern wirkte. Sie konnte lammfromm vor Onkel Charlie kauern, sich dann umdrehen und mich frech wegen meiner »geliehenen« Hosenträger und Krawatten aufziehen. Ich mochte Michelle wahnsinnig gern. Mir gefiel ihr stummes Lachen, bei dem sich ihr Mund ein oder zwei Sekunden öffnete, bevor ein Ton herauskam. Mir gefiel ihr Lächeln, das man in früheren Zeiten liebreizend genannt hätte. Mir gefiel, dass ich ihre Familie schon ewig kannte – McGraw und ich hatten mit ihrem älteren Bruder in der Little League gespielt. Nach unseren ersten Verabredungen hegte ich große Hoffnungen für unsere knospende Romanze, selbst nachdem sie mir beichtete, dass sie einmal mit McGraw rumgeknutscht hatte.
    »Du und McGraw?«, fragte ich. »Kann nicht sein.«
    »Es war in der siebten Klasse, auf einer Party. Wir tranken Rum und – ich glaube, Milch.«
    »Passt. Typisch McGraw.«
    Michelle war perfekt, das Beste, was Manhasset zu bieten hatte. Eigentlich hätte ich mich auf sie stürzen müssen, meine ganze Energie geben sollen, um sie zu erobern, doch ich konnte mir nur schwer vorstellen, dass ich der Mann war, den sie verdiente. Nach Sidney und mehreren gescheiterten Versuchen, sie zu ersetzen, war ich mir nicht sicher, ob ich noch an die Liebe glaubte. Mein einziges Ziel bei Frauen war, zu vermeiden, dass man mir etwas vormachte, und das hieß, ich musste distanziert und unverbindlich bleiben, genau wie Sidney. Zudem wusste ich nicht, was ich von einer Frau halten sollte, die wie Michelle treu, gut und zuverlässig war. Ihre Vorteile bissen sich mit meinen Erfahrungen und geringen Erwartungen.
    Aus diesem Grund hielt ich Michelle auf Abstand und traf mich stattdessen manchmal mit einer schwer geschminkten Frau, die gerade die richtige Mischung aus diskret und anspruchslos war. Bei der letzten Runde sah sie von der anderen Seite der Bar zu mir herüber und hielt, einen fragenden Blick in den Augen, den Daumen hoch. Hielt ich zur Antwort den Daumen ebenfalls hoch, hüpfte sie vom Hocker, eilte aus der Bar, und wir trafen uns fünf Minuten später vor Louie the Greek’s. War Däumelinchen nicht im Publicans, flirtete ich anderweitig und nicht sehr erfolgreich mit einem stupsnasigen britischen Au-pair-Mädchen, das wie Margaret Thatcher redete und mich in lange Diskussionen über die Schlacht von Hastings und Admiral Horatio Nelson verstrickte. Ich fand ihren Akzent irritierend und ihre Leidenschaft für britische

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