Tender Bar
trinken, als müssten sie morgen früh auf den elektrischen Stuhl«, sagte Colt. Aber ich hörte auch, wie sich jemand beklagte, der Alkohol würde nicht wirken. In diesem Meer aus Trauer, so schien es, war all der kostenlose Whiskey nur ein Tropfen.
Ich schlängelte mich durch die Bar und kam mir vor wie in einem Wachsmuseum, das mit fahlen Nachbildungen der wichtigsten Menschen in meinem Leben bevölkert war. Ich sah Onkel Charlie – oder eine wächserne Ausgabe von ihm –, die Krawatte schief, der Rücken gebeugt, noch immer matt von dem Ohnmachtsanfall. Er war betrunkener als nach Pats Tod, ich hatte ihn noch nie so betrunken gesehen. Er hatte eine Ebene der Trunkenheit erreicht, eine transzendente Trunkenheit, und zum ersten Mal machte mir sein Zustand Angst. Ich sah Don und Fast Eddy, die verschwörerisch miteinander flüsterten, und direkt hinter ihnen Tommy, dessen verblödete Gesichtszüge durch die tiefen Rillen an seinem Kinn wegzufließen drohten. Er sah fünfundsiebzig Jahre älter aus als an dem Tag, als er mich zum Spielfeld im Shea Stadium brachte. Ich sah Jimbo, der einen schluchzenden McGraw tröstete. Mitten in der Bar entdeckte ich Bob the Cop, im Gespräch mit Cager, und hinter ihnen lehnte Dalton an einer Stange, er wirkte verloren ohne einen Gedichtband und ohne Frau, mit der er flirten konnte. Joey D unterhielt sich mit Josie, Steves Tod hatte die Lage zwischen den beiden entschärft; sein Cousin General Grant stand nicht weit entfernt, in einem schwarzen Anzug, ihm genügte als Trost eine Zigarre. Fuckembabe, ebenfalls im Anzug, mit sauberem Gesicht und gekämmten Haaren, war möglicherweise noch der Nüchternste in dem ganzen Laden. Er unterhielt sich mit einigen Börsenmaklern und war beinahe gut zu verstehen. Beredsamkeit aus Kummer. Colt und Smelly hielten einander fest, DePietro redete nicht weit von ihnen in einer Sitzecke mit ein paar Kollegen aus der Wall Street. Ich sah Däumelinchen, mied ihren Blick – und ihren Daumen. Ich sah Michelle, schön wie immer und darauf bedacht, zu gehen. Ich sah Crazy Jane, die Designerin der Buntglasgenitalien hinter der Theke, sie kam aus dem Keller und zog Schwaden von Marihuana hinter sich her. Ich sah Leute, die ich kannte, deren Namen mir aber nicht mehr einfielen, und andere, die ich noch nie gesehen hatte; sie unterhielten sich über die Gefallen, die Steve ihnen getan, über die wohltätigen Zwecke, die er unterstützt, über Essen, die er ausgerichtet, Darlehen, die er vorgestreckt, witzige Bemerkungen, die er gemacht, Streiche, die er inszeniert, Studenten, denen er bekanntermaßen das Studium finanziert hatte. In den letzten wenigen Stunden, überlegte ich, hatten wir mehr über Steve erfahren als in den vielen Jahren, in denen wir mit ihm in seiner Bar standen und uns mit ihm unterhielten.
Ich sah Peter und eilte erleichtert zu ihm. Ich pflanzte mich neben Peter, meinen Lektor, meinen Freund, ich brauchte seine ganz spezielle Liebenswürdigkeit und seinen gesunden Menschenverstand. Ich legte mir einen Plan zurecht, wie ich die ganze Nacht bei ihm bleiben könnte, ohne ihn zu nerven. Er fragte, wie es mir ginge, doch kaum wollte ich ihm antworten, zog Bobo mich fort. Ich hatte Bobo seit Jahren nicht mehr gesehen. Er erzählte eine Steve-Geschichte, die ich jedoch nicht verstand. Er war betrunken und litt nach wie vor an den Folgeerscheinungen des Treppensturzes in der Bar, sein Gesicht war noch immer teilweise gelähmt. Ich fragte mich, ob er Steves Sturz wohl mit seinem gleichsetzte. Als Bobo mich freiließ, sagte ich zu Peter etwas von wegen, im Publicans würden die Leute oft hinfallen. Bevor er antworten konnte, hörten wir Georgette in der Nähe der Hintertür. Sie weinte und sagte immer wieder: »Wir haben unseren Chief verloren. Wie geht es bloß weiter ohne unseren Chiet?«
Auf der Anlage lief klassische Trauermusik. Jemand rief, wir sollten lieber Steves Musik hören. Elvis. Fats Domino. Johnny Preston. Einer der Barmänner suchte eine Kassette mit Steves Lieblingsstücken. Die Musik machte alle fröhlich und traurig zugleich, denn sie ließ Steve lebendig werden. Natürlich war Chief da. Wir mussten ihn nur in dieser wuselnden, betrunkenen Menge finden, dann könnten wir schallend mit ihm darüber lachen, wie komisch alles war.
Ich besorgte mir noch einen Scotch und stellte mich zu Bob the Cop, der wie immer Rusty Nails trank.
»Wie lange, meinst du, hält der Laden noch durch?«, fragte er mich. »Du glaubst, das
Weitere Kostenlose Bücher