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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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Grabstein lehnten. Nicht weit entfernt befand sich ein Grabstein von Anfang 1700, die Inschrift war kaum noch lesbar:
     
    SEINEN FREUNDEN GIBT ER ES IM SCHLAF.
     
    Zurück in der Kirche, drängte ich mich durch die Menge und erhaschte einen kurzen Blick auf Steves Sarg. Das Schniefen und Seufzen und Weinen der Trauernden ging wie ein Rauschen durch die Kirche. Wie schlagende Brandung. Eine Prozession kräftiger Männer stieg zum Altar empor und las aus der Bibel, gefolgt von Jimbo, der beim Sprechen mit den Tränen kämpfte. Als ich Jimbo sah und mit ihm fühlte, wurde mir etwas mit einer solchen Wucht und atemberaubenden Klarheit bewusst, dass ich am liebsten die Kirche verlassen und mich draußen neben Onkel Charlie gelegt hätte.
    Ich hatte Steve immer als unseren Gatsby gesehen – ein reicher, rätselhafter Mann, der für Aberhunderte von Fremden an der Gold Coast von Long Island rauschende Partys gab. Und dieser Gedanke wurde durch seinen gewaltsamen und verfrühten Tod noch verstärkt. Doch wie bei Gatsby zeigte sich Steves wahrer Charakter bei seinem Begräbnis, und Jimbos Lobrede führte mir ihn deutlich vor Augen. Steve war für Jimbo wie ein Vater gewesen, und in gewisser Weise war er das für uns alle. Selbst ich, der ich Steve nicht so gut kannte, war ein Sohn in seiner Großfamilie. Steve war von Berufs wegen Kneipier, aber in seinem Innersten ein Patriarch, und vielleicht rührte daher sein Wunsch, uns Namen zu geben. Vielleicht war das der Grund, warum Onkel Charlie an einem Grabstein lehnte und warum jeder Mann aus dem Publicans weniger an einen Trauergast als an eine Waise erinnerte.
    Nach dem Gottesdienst verließen wir hintereinander die Kirche, murmelten Gebete, umarmten uns und fuhren dann zum Friedhof. Der Leichenzug bewegte sich langsam am Publicans vorbei. Die Bar lag zwar nicht auf dem Weg, doch herrschte allgemein die Ansicht, dass Steve noch ein letztes Mal an ihr vorbeikommen sollte. Nachdem man Steve in die Erde gesenkt hatte, gingen wir alle ins Publicans, Aberhunderte von Menschen. Einige hatten Georgette gedrängt, die Bar Steve zu Ehren an diesem Tag zu schließen, aber sie sagte, er hätte das nicht gewollt. Steve wollte das Publicans immer geöffnet sehen – ob bei Renovierungen, Rezessionen, Stromausfällen, Schneestürmen, Börsenkrach oder Krieg. Eine offene Bar entsprach Steves Sendungsbewusstsein. Eine geschlossene Bar war seine größte Angst, die Angst, die in den Augen vieler für seinen Tod verantwortlich war. Nachdem Steves Leben in so viele Fragezeichen gehüllt war, umgab seinen Tod fast unvermeidlich ein Geheimnis. Die meisten Leute glaubten, er sei an dem Sturz von der Treppe gestorben, und von diesem Glauben ließen sich einige in Manhasset nie abbringen. Am Anfang hielt auch Georgette an diesem Glauben fest, obwohl die Arme ihr versicherten, nicht der Sturz, sondern ein Herzaneurysma habe seinen Tod verursacht.
    Um Steves Andenken zu ehren, öffnete Georgette das Publicans nicht nur nach der Beerdigung, sie erklärte die Bar für durchgängig geöffnet. Niemand sollte zahlen, niemand die Worte »letzte Runde« aussprechen, alle sollten trinken bis zum Umfallen.
    Eine verschwenderische, großzügige Geste, die auch zu denken gab. Eine durchgängig geöffnete Kneipe in Manhasset? Eine Stadt, in der Alkohol wie Selterwasser getrunken wurde? Ich hielt das für eine leichtsinnige und gefährliche Idee. Als wollte man ein Lagerfeuer in einer Stadt von Pyromanen aufbauen. Aber Georgette duldete keinen Widerspruch. Sie engagierte Barmänner aus den anderen Kneipen an der Plandome Road, um im Publicans zu arbeiten, damit Steves Leute frei hatten, und sie lud die Stadt ein – nein, sie befahl der Stadt – zu trinken. Manhasset wurde von Georgette gedeckt.
    Noch nie war es im Publicans so voll, so laut, so fröhlich und traurig zugleich gewesen. Während der Alkohol floss und der Kummer wuchs und das Lachen lauter wurde, setzte eine Art Hysterie ein, wenn auch ein Teil dieser Hysterie möglicherweise auf Sauerstoffmangel zurückzuführen war. Die Luft war so dick und heiß von Schweiß und Rauch, dass jeder Atemzug anstrengte. Die Bar sah aus wie Dantes Manhasset. Augen traten vor. Zungen hingen aus dem Mund. Alle fünf Minuten ließ jemand eine Flasche fallen, auf dem Boden bildeten sich große funkelnde Flecken von Alkohol und zersplittertem Glas. An den Wänden wurden Tische mit Essen aufgestellt, doch niemand rührte es an. Alle wollten nur noch trinken. »Die

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