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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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Publicans könnte schließen? Gütiger Himmel. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht.«
    Was nicht ganz stimmte. Der Gedanke nagte schon die ganze Zeit an mir, ich wollte mich nur nicht damit beschäftigen. Wenn Bob the Cop ihn jedoch laut aussprach, verstand ich meinen Kummer und den aller anderen besser. Das Ganze hatte etwas Egoistisches an sich. Steve fehlte uns, und wir trauerten um ihn, aber wir wussten auch, ohne ihn könnte die Bar sterben.
    Meine Beine wurden schwach. Ich sah mich nach einem Platz zum Ausruhen um, aber alle Sitzplätze waren besetzt. Mir wurde schlecht. Plötzlich stieß mich alles ab, selbst beim Anblick des langen polierten Tresens drehte sich mir der Magen um, weil er mich an Steves Sarg erinnerte. Ich kämpfte mich durch die Menge nach draußen und torkelte zu Opa, wo ich mich im hinteren Schlafzimmer aufs Bett fallen ließ. Als ich Stunden später die Augen öffnete, wusste ich nicht, wo ich war. In Yale? In Arizona? Bei Sidney? In meiner Bude über Louie the Greek’s? In der Hugo-Wohnung? Dann fügte sich langsam alles zu einem Bild, und ich merkte, dass ich bei Opa war. Wieder einmal.
    Nach einer langen heißen Dusche zog ich mir frische Sachen an und ging zurück ins Publicans. Inzwischen war es drei oder vier Uhr morgens, aber alle standen noch genau dort, wo ich sie zurückgelassen hatte, obwohl sie schmolzen und implodierten, als hätte jemand im Wachsmuseum die Heizung zu weit aufgedreht. Ich kämpfte mich in die Mitte der Menge vor und sah Bob the Cop und Cager noch an ihrem Platz am Tresen.
    Sie wussten nicht, dass ich nach Hause gegangen und wieder zurückgekommen war. Sie hatten keine Ahnung, wie spät es war oder welcher Tag, und eigentlich interessierte es sie auch nicht. Ich trank mit ihnen bis zum Morgengrauen. Sie machten noch immer keine Anstalten zu gehen, aber ich brauchte Luft und etwas zu essen.
    Ich ging zu Louie the Greek’s. An der Theke drängten sich Pendler, die nach acht Stunden Schlaf alle scharfsichtig und pflichtbewusst den Tag beginnen wollten. Ich sah das englische Au-pair-Mädchen, das wie Margaret Thatcher redete. Ihr Haar war noch feucht, die Wangen frisch und rosig. Sie knabberte an einem Muffin und trank heißen Tee. Sie starrte mich an. »Wo kommst du denn her?«, fragte sie.
    »Von einer Beerdigung.«
    »Gütiger Himmel, von welcher denn bloß? Deiner eigenen?«
     
     
     

43 | SMELLY
     
    Ein paar Wochen später ging ich die Plandome Road entlang und sah aus dem Publicans einen fahlen, aufgedunsenen Mond aufsteigen. Der Mond wackelte, als hätte er einen zuviel getrunken. Als Mensch, der stets auf Zeichen achtete und äußerst empfänglich für ihre Bedeutung war, hätte ich dieses eigentlich mühelos interpretieren müssen. Sogar der Mond verlässt die Bar. Aber ich ignorierte es. In den Wochen nach Steves Tod ignorierte ich alles, handhabte ich sämtliche Zeichen und unangenehmen Fakten wie Joey D Großmäuler. Ich weigerte mich schlicht-weg, sie wahrzunehmen.
    Doch Steves Tod – das Elende daran, die Sinnlosigkeit – ließ sich nicht lange ignorieren. Mindestens einmal am Tag dachte ich an Steve, an die Art, wie er starb, und fragte mich, was er wohl jetzt, da er alle Antworten kannte, zu unserem Lebensstil sagen würde. Ich hatte immer an der romantischen Vorstellung festgehalten, dass wir uns im Publicans vor dem Leben versteckten. Nach Steves Tod hörte ich seine Stimme immer wieder fragen: Verstecken wir uns vor dem Leben oder umwerben wir den Tod? Und wo liegt eigentlich der Unterschied?
    In jenem November sah ich oft in die hohläugigen und aschfarbenen Gesichter an der Theke und fragte mich, ob wir vielleicht schon tot waren. Ich musste an Yeats denken: »Ein Säufer ist ein Toter, | Und alle Toten blau« Ich dachte an Lorca. »Ein und aus in | der Taverne | geht der Tod.« War es Zufall, dass meine beiden Lieblingsdichter den Tod als Stammgast in einer Kneipe darstellten? Manchmal erhaschte ich mein eigenes hohläugiges und aschfarbenes Spiegelbild in einer der silbernen Registrierkassen. Mein Gesicht war wie der Mond, bleich und aufgedunsen, nur ging ich nie, im Gegensatz zum Mond. Ich konnte nicht. Seit jeher hatte ich Steves Bar metaphorisch gesehen, an einen Fluss, ein Meer, ein Floß, ein Schiff, einen Zug, die mich in eine weit entfernte Stadt brachten. Jetzt sah ich die Bar als ein am Meeresgrund festsitzendes U-Boot, und langsam ging uns die Luft aus. Dieses klaustrophobische Bild verstärkte sich auf beunruhigende

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