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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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sagte noch etwas zu ihrem neun Monate alten Sohn, etwas Wichtiges, sein Gesicht verzog sich zu einer fragenden, mürrischen Miene. Ich kannte diese mürrische Miene. Ich stand auf und sah in den Spiegel über dem Kamin – da war sie wieder. Ich sah erneut zum Bildschirm, auf dem meine Mutter die Hand ihres Sohnes hielt und in die Kamera winkte. Wieder flüsterte sie ihm etwas ins Ohr, wieder die mürrische Miene. Obwohl er ihre Stimme und ihre Worte hörte, verstand er nicht die Bedeutung.
    Aber ich verstand sie. Vierundzwanzig Jahre später verstand ich meine Mutter klar und deutlich.
    »Sag, ›Auf Wiedersehen‹.«
    Jeder Mann reagierte anders, als ich ihm am Neujahrstag 1990 verkündete, dass ich bei der Times kündigen und New York verlassen würde. Fast Eddy reagierte gelassen. Don freundlich. Colt cool. General Grant paffte an seiner Zigarre und riet mir, ihnen ordentlich in den Arsch zu treten. Cager war stolz. Peter bat mich, ihm ab und zu ein Kapitel zu schicken, key D wirkte nachdenklich und sah genauso besorgt aus wie damals, als McGraw zur Sandbank geschwommen war: Ich begab mich zu weit hinaus, in zu tiefes Wasser. Ich versprach ihm, dass ich zurechtkommen würde und dankte ihm für alles, worauf er ein paar rührselige Sachen über »ihr Jungs« zu seiner Maus sagte, Sachen, die ich nur zu gern gehört hätte.
    Falls Smelly überhaupt reagierte, entging es mir.
    Bob the Cop senkte den Blick auf seine großen Füße und schüttelte seinen großen Kopf. »Ohne dich ist der Laden nicht mehr der gleiche«, sagte er. Aber wir wussten beide, der Laden würde nie wieder der gleiche sein, ob mit oder ohne mich, und das war der springende Punkt.
    Fuckembabe umarmte mich und sagte: »Sieh zu, dass du deine Tanzmuse aufmischst, hörst du, mein junger Teuflisch? Mach halblang mit deinem Umgang und sorg dafür, dass deine Gehirnmasse immer fest im Kasten verschraubt ist.
    Manchentags wird deine Achtung absaufen, und anderntags wird sie wieder hochschnaufen. Vorhanden? Aber ganz egal, was krackelt – Lauscher auf? –, ich will nie hören, dass du nur wegen deinem verbackten Hackenpfahl einen Wischwasch gezascht oder deine Flammensüße in eine Rumpeltonne geascht hast! Gut? Und immer gedächtnissen, immer gedächtnissen: Fuck’em, babe. Fuck’em.«
    Daltons Reaktion überraschte mich am meisten. »Du ahnst gar nicht, welche Schrecken dort draußen deiner harren«, sagte er und zeigte zum Fenster. »Wusstest du, dass in manchen Teilen dieses Landes die letzte Runde um ein Uhr morgens ausgerufen wird? Um ein Uhr! In Städten wie Atlanta und Dallas, da kommen sie zu dir und reißen dir das Martiniglas aus der Hand – obwohl noch was drin ist.«
    »Ich versuche, es nicht zu vergessen«, sagte ich.
    Er meinte es ernst. Und es ärgerte ihn, dass ich mich über ihn lustig machte.
    »Lach du nur«, sagte er. »Aber kennst du das Sprichwort Die Menschen sind überall gleich? Das stimmt nicht.«
    »›Aber es ist Schweres, was uns aufgetragen wurde‹«, sagte ich. »Rilke.«
    Daltons Gesicht leuchtete auf. »Du kommst schon klar«, sagte er und versetzte mir einen Klaps. Und zur Bekräftigung und um der guten alten Zeiten willen, fügte er hinzu: »Blödmann.«
    Onkel Charlie hatte Thekendienst. Wir tranken einen Sambuca, und ich erzählte ihm, dass ich meine Mutter besuchen und eine Weile bei ihr bleiben wollte; danach wollte ich zu meinem Vater, der in North Carolina lebte und eine Radio-Live-Sendung moderierte. Als Onkel Charlie mich nach dem Grund fragte, erklärte ich es ihm: Mit mir war etwas nicht in Ordnung, und ich wollte herausfinden, was genau es war, und zu diesem Zweck musste ich zurück zur Quelle.
    Rauch schoss aus Onkel Charlies Nase. Er legte eine Hand an seine Schläfe. »Dein Vater war mal hier«, sagte er. »Habe ich dir das jemals erzählt?«
    »Nein.«
    »Er kam nach Manhasset und wollte mit deiner Mutter reden, kurz nach ihrer Trennung. Ich glaube, er wollte eine Versöhnung. Auf dem Rückweg zum Zug schaute er auf einen Drink vorbei. Scotch. Pur. Er saß ungefähr da.«
    Ich sah den Hocker an, auf den Onkel Charlie zeigte. Ich fragte ihn, worüber sie sich unterhielten, was mein Vater anhatte, wie er sich verhielt. »Schon komisch«, sagte Onkel Charlie, die Ellbogen auf den Tresen gestützt. »Das Einzige, was mir von deinem Vater in Erinnerung geblieben ist, ist diese unglaubliche Stimme. Dieses herrliche Orgelregister. Seltsam, oder?«
    »Nicht unbedingt. Ich erinnere mich auch an nichts

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