Tender Bar
anderes.«
Onkel Charlie zündete sich wieder eine Marlboro an. Er hätte Humphrey Bogart nicht ähnlicher sehen, nicht ähnlicher klingen können, selbst wenn er gewollt hätte, und plötzlich wurde mir klar – genau das wollte er. Die Ähnlichkeit war kein Zufall. Vermutlich hatte er damit angefangen, als er noch Mein war. Vermutlich hatte er Casablanca entdeckt und war, genau wie ich, Bogarts Bann erlegen und hatte angefangen, wie er zu sprechen und sich wie er zu bewegen, bis ihm die Imitation zur zweiten Natur wurde. Meine gelegentliche Imitation von Onkel Charlie war also eine Imitation Bogarts aus zweiter Hand gewesen. Ich begriff, wie kompliziert solche Imitationsketten mitunter werden konnten. Wir alle unterhielten unsere heimlichen Hommagen an Bogart oder Sinatra oder Hemingway, an den Duke oder Yogi Bär oder Ulysses Grant. Und Steve. Da alle Barmänner in irgendeiner Form Steve imitierten, und wir alle in irgendeiner Form die Barmänner imitierten, war das Publicans vielleicht nur ein Spiegelkabinett voller Steve-Darsteller.
Ich blieb nicht bis zur letzten Runde. Ich musste noch packen, bevor mein Flug am nächsten Morgen ging. Ich küsste Onkel Charlie zum Abschied. Er schlug auf die Theke und zeigte auf meine Brust. Dann ging ich durch die Bar und gab beklommen jedem die Hand. Ich umarmte Bob the Cop und Cager, aber sie waren keine großen Umarmer. Es war, als würde ich zwei alte Kakteen umarmen.
Lass von dir hören, sagten sie.
Mach ich, sagte ich und ging zur Tür hinaus. Ganz bestimmt.
44 | MEIN VATER
Ich sehnte mich nach einem Drink, konnte aber keinen bestellen. Mein Vater war seit Jahren trocken, deshalb wollte ich nicht unhöflich sein und vor seinen Augen einen doppelten Scotch kippen. Wir saßen in der Ecke eines Restaurants, vor uns eine Coke, und ich erzählte ihm von Steves Beerdigung, meinem Abgang aus New York, dem Besuch bei meiner Mutter. Sie wiederzusehen war schön, sagte ich, aber auch unangenehm, denn bei ihr zu wohnen gab mir das Gefühl, wie Onkel Charlie zu sein, und das wiederum führte dazu, dass ich seinetwegen und meinetwegen traurig war.
Ich verschwieg meinem Vater die lange Unterhaltung mit meiner Mutter, in der ich mich unter Tränen für meine Unfähigkeit entschuldigte, sie zu versorgen. Während ich mich an ihrer Schulter ausweinte, versicherte sie mir, es sei nicht meine Aufgabe, für sie zu sorgen, sei nie meine Aufgabe gewesen, ich müsse aufhören, mich für sie verantwortlich zu fühlen und eine Möglichkeit finden, für mich selbst zu sorgen. Das alles hätte ich meinem Vater gern erzählt, ließ es aber bleiben, weil der Subtext der Geschichte das fortgesetzte Erbe seines Verschwindens war, und ich nach wie vor nicht mit ihm über dieses Thema reden wollte.
Ich erzählte von McGraw, der sein Studium am Nebraska College abgeschlossen hatte und nach Colorado gezogen war, wo er mit Jimbo in den Bergen lebte. Ich beneide die beiden um ihre Nähe, sagte ich, und um ihre Freiheit. Mein Vater brummte. Während ich weiterschwafelte und mich bemühte, nicht daran zu denken, wie köstlich ein Glas Scotch schmecken würde, versuchte ich zu ignorieren oder so zu tun, als ob es mir egal wäre, wie wenig empfänglich er war. Er hörte mir gar nicht zu. Er pulte an seiner Nagelhaut, brach die langen Brotstangen in kleine Brotstangen und starrte unserer Kellnerin auf den Hintern. Schließlich griff er nach ihr. Ich dachte schon, er würde ihr an den Hintern fassen, aber er strich ihr über den Arm. »Kann ich einen doppelten Wodka-Martini haben?«, fragte er. »Ohne Eis. Zwei Oliven.«
Ich starrte ihn an.
»Ach so«, sagte er. »Stimmt. Das hab ich dir am Telefon nicht erzählt. Von Zeit zu Zeit genieße ich einen Cocktail. Weißt du, mir ist klar geworden, dass ich kein richtiger Alkoholiker bin. Wirklich. Das ist gut. Wenn mir danach ist, genieße ich einen Cocktail.« Ständig wiederholte er die Wendung »einen Cocktail genießen«, offenbar fand er sie beruhigend und banal.
Zuerst war ich irritiert, aber nachdem mein Vater einen halben Cocktail genossen hatte, genoss er auch meine Anwesenheit. Plötzlich war er empfänglich. Er hörte zu. Mehr noch, er gab mir Ratschläge, brachte mich zum Lachen, machte seine komischen Stimmen. Vor meinen Augen verwandelte er sich in einen anderen Mann, in einen der Männer im Publicans, und so drängte ich ihn, noch einen Cocktail zu genießen. Teufel auch, sagte ich zur Kellnerin, als wäre mir der Gedanke eben
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