Tender Bar
immer Smellys Finger spürte. Der Bildschirm wurde weiß, dann erschien ein Bild. Opas Haus. Das Bild war so gestochen scharf, dass ich dachte, es wäre erst heute Morgen aufgenommen worden. Aber das Dach hing nicht durch, die Farbe blätterte nicht ab, die Bäume waren noch Bäumchen, und die Auffahrt noch nicht vom Blitz gespalten. Jetzt lief Onkel Charlie mit einer Pompadourfrisur ins Bild, er sah aus, als käme er aus einer prähistorischen Zeit.
Die Kamera wackelte wie wild, von links nach rechts und wieder zurück, dann wanderte sie zu einer hübschen zierlichen Frau, die auf der Vortreppe saß. Sie hielt ein Baby. Sie schaukelte es hin und her, flüsterte ihm etwas ins Ohr. Ein Geheimnis. Es drehte ihr seinen Kopf zu. Meine Mutter und ich, vor vierundzwanzig Jahren. Meine Mutter sah ihren neun Monate alten Sohn an, dann geradeaus, zu mir, ihrem betrunkenen fünfundzwanzigjährigen Sohn. Ich fühlte mich ertappt und hatte den Eindruck, dass sie in die Zukunft blickte und sah, was aus mir geworden war.
Allem Anschein nach war die Szene unmittelbar nach dem Umzug meiner Mutter zu Opa gefilmt worden, kurz nachdem mein Vater versucht hatte, sie umzubringen, doch das war unmöglich, denn aus dem Blick meiner Mutter sprach nicht die geringste Angst. Sie sah glücklich aus, zuversichtlich, wie eine Frau mit Geld auf dem Konto und einer strahlenden Zukunft am Horizont. Wahrscheinlich verbarg sie ihre Gefühle vor Oma und Opa. Sie wollte die beiden nicht beunruhigen. Und dann dämmerte es mir. Meine Mutter versuchte nicht, Oma und Opa zu täuschen.
Es war die erste Lüge meiner Mutter mir gegenüber, auf Film gebannt.
Wie machte sie das nur? Wie schaffte sie es, so entschlossen zu wirken – ohne Ausbildung, ohne Geld, ohne Hoffnung. Gerade hatte sie die Gewalt meines Vaters überlebt, der ihr ein Kissen aufs Gesicht drückte, bis sie kaum noch Luft bekam und mit dem Rasiermesser auf sie losging, und obwohl sie vermutlich erleichtert war, ihm entkommen zu sein, dürfte ihr klar gewesen sein, was sie erwartete – Einsamkeit, Geldsorgen, das Scheißhaus. Aber nichts davon sah man ihr an. Sie war eine geniale Lügnerin, eine brillante Lügnerin, die sich auch selbst in die Tasche log, und das ließ mich ihre Lügen in einem völlig neuen Licht sehen. Manchmal, das begriff ich jetzt, müssen wir uns etwas vormachen, müssen wir uns einreden, dass wir fähig und stark sind, dass das Leben gut ist und harte Arbeit belohnt wird, und dann müssen wir uns bemühen, unsere Lügen wahr werden zu lassen. Genau das ist unsere Aufgabe, unsere Rettung, und diese Verbindung zwischen Lügen und Bemühen war eins der vielen Geschenke meiner Mutter an mich, die Wahrheit, die immer knapp unter ihren Lügen lag.
Meine Mutter spielte mit ihrem neun Monate alten Sohn, dann hielt sie ihn hoch, bewunderte ihn, und vierundzwanzig Jahre später bewunderte ich sie auf eine völlig neue Weise. Ich hatte immer geglaubt, ein Mann zu sein bedeute, sich nicht unterkriegen zu lassen, und genau das war meiner Mutter besser gelungen als jedem anderen. Und sie hatte immer gewusst, wann es Zeit war zu gehen. Sie hatte meinen Vater verlassen, war aus Opas Haus ausgezogen, hatte New York den Rücken gekehrt, und der Nutznießer ihrer rastlosen Courage war meistens ich. Ich war so darauf fixiert gewesen, reinzukommen, dass ich das Talent meiner Mutter, außen vor zu bleiben, nie richtig geschätzt hatte. Während ich nach vorn gebeugt auf dem zweihundertjährigen Sofa saß und in ihre grünbraunen Augen sah, wurde mir klar, dass meine Mutter alle Eigenschaften verkörperte, die ich mit Männlichkeit verband: Härte, Ausdauer, Entschlossenheit, Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit, Rechtschaffenheit, Mut. Vage war ich mir dessen immer bewusst gewesen, doch als ich jetzt zum ersten Mal einen Blick auf die Kriegerin erhaschte, die sich hinter ihrer ausdruckslosen Miene verbarg, begriff ich es vollständig und konnte es zum ersten Mal in Worte fassen. So lange hatte ich gesucht und mir gewünscht, hinter das Geheimnis zu kommen, wie man ein guter Mann wird, dabei hätte ich nur dem Beispiel einer einzigen überaus guten Frau folgen müssen.
Ich schaute von meiner Mutter zu meinem neun Monate alten Ich. Wie konnte aus diesem hilflosen Baby dieser hilflose Säufer werden? Wie konnte ich so weit reisen und dann nur 192 Schritte weiter landen, um mir von Smelly den Hals zudrücken zu lassen? Und was wollte ich dagegen unternehmen? Das Band ging zu Ende. Meine Mutter
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