Tender Bar
Winkel meines Gehirns ahnte ich, dass meine Mutter sich damals genau dem gleichen Schreckgespenst gegenübergesehen hatte – meinem durchgedrehten Vater mit einem Messer in der Hand. Ich hatte mir immer eingebildet, zu wissen, wie verängstigt sie gewesen sein musste, aber erst als ich jetzt das Messer in der Hand meines Vaters sah, konnte ich das Ausmaß ihrer Angst erahnen. War jetzt meine Chance gekommen, sie zu rächen? Wollte mich das Universum auffordern, eine alte Rechnung zu begleichen? Sollte ich meinen Vater entwaffnen und mit diesem Messer durch den Wald jagen? Mir war klar, dass meine Mutter nichts dergleichen gewollt hätte. Wenn sie hier wäre, würde sie mir raten, wegzurennen. Aber ich konnte nicht. Es gab kein Zurück. Wenn mein Vater angreifen würde, würde etwas Schlimmes passieren, und was immer es war, eins wusste ich genau: Der letzte Aufrechte wäre ich.
Er ließ das Messer fallen. Die Klinge landete mit einem scheußlichen Krach auf dem Küchenboden. Er stürmte aus dem Haus, stieg in seinen Sportwagen und jagte davon. Die Freundin sah mich an. Ich sah sie an. Wir sahen beide die Tochter an, die zitterte. Alle hielten wir den Atem an und rechneten jede Sekunde mit seiner Rückkehr. Als er nicht kam, fragte ich die Freundin: »Könnten Sie mich zum Flughafen fahren?«
»Klar.«
»Könnten wir erst bei ihm vorbeifahren? Ich muss meine Sachen holen.«
»Er wird da sein!«
»Nein. Wird er nicht.«
Ich war mir vollkommen sicher, dass mein Vater nach wenigen Minuten in eine Bar einkehren und er diese Bar sehr lange nicht verlassen würde.
Wir fuhren schnell zur Wohnung meines Vaters. Die Tür war zugesperrt, ich kletterte durch ein Seitenfenster hinein. In der Woche seit meiner Ankunft hatte ich kaum ausgepackt, deshalb dauerte es nur Minuten, alles in meine Tasche zu werfen. Dann fuhren wir über dunkle Straßen. Wie in einem Horrorfilm sahen wir ständig in den Rückspiegel und rechneten mit Scheinwerfern, die hinter uns auftauchten. Die Tochter lag auf dem Rücksitz und schlief entweder oder war starr vor Angst.
Die Nacht war mondlos und ungewöhnlich dunkel, ich sah nur Sterne, obwohl ich wusste, dass wir durch Weideland fuhren, denn ich roch frisch umgegrabene Erde und Dung, und alle paar hundert Meter sah ich in der Ferne die gelben Lichter eines Farmhauses blitzen. Als wir den Flughafen erreichten, hielt die Freundin am Randstein und zog die Handbremse. Einen Augenblick saßen wir nur da und versuchten uns wieder zu sammeln. »Weißt du«, sagte sie schließlich, »eins will ich dir sagen – du bist ganz anders als dein Vater.«
»Wenn das mal stimmt« Ich küsste sie zum Abschied und wünschte ihr Glück, wenn mein Vater zurückkehrte.
Der Flughafen war menschenleer, die nächsten Flüge gingen erst am Morgen. Sämtliche Geschäfte und Bars waren geschlossen. Ein Hausmeister schob eine Bohnermaschine über den Linoleumboden. In der Wartezone legte ich mich auf eine Reihe Plastiksitze und schloss die Augen. Als ich sie wieder öffnete, begann es zu dämmern. Ich roch Brötchen und frisch gekochten Kaffee. Die Geschäfte öffneten ihre Pforten. Ich kaufte mir einen Rasierer und Rasiercreme, ging in den Waschraum. Im Spiegel sah ich ein anderes Gesicht. Die vertraute mürrische Miene war noch da – nur die Augen wirkten wacher. Aber wofür? Ich war mir nicht sicher.
Ich dachte an Bill und Bud. Sie hatten mich gewarnt, dass Desillusionierung die große Gefahr sei, die mir bevorstand, und Recht behalten. Doch an jenem Morgen, befreit von den lebenslangen Illusionen über meinen Vater und über ein paar andere Männer und über Männer allgemein, klopfte ich mir pfeifend Rasiercreme auf die Wangen, denn ohne Illusionen zu sein hieß, ich war auf mich allein gestellt. Es gab niemanden, den ich anhimmelte, niemanden, den ich nachahmte. Natürlich bedauerte ich nicht alle Illusionen, und ganz bestimmt ließ ich nicht alle in jener Flughafentoilette zurück. Manche hegte ich noch Jahre, bevor ich mich von ihnen verabschiedete, andere blieben für immer. Aber die Arbeit hatte begonnen. Dein Vater ist kein guter Mann, aber du bist nicht dein Vater. Als ich das dem jungen Mann mit dem Schaumbart im Spiegel sagte, fühlte ich mich unabhängig. Frei.
Ich kaufte mir einen Becher Kaffee und setzte mich damit mitten in den Flughafen, direkt unter die Anzeigetafel, die sämtliche Ankünfte und Abflüge auflistete. Es gab so viele Städte, so viele Orte, um von vorne zu beginnen. Vielleicht
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