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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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sollte ich nach Arizona zu meiner Mutter und ihr erzählen, wie ich meinem Vater die Stirn geboten hatte. Vielleicht sollte ich wieder nach New York und auf die Gesichter der Männer achten, wenn ich durch die Tür ins Publicans kam.
    Dann gingen mir jene vier seltsam ermutigenden Worte durch den Kopf. Choose your own adventure – Wähle dein eigenes Abenteuer.
    Ich rief McGraw und Jimbo in Colorado an. Als ich McGraw von meinem Streit mit meinem Vater erzählte, kicherte er. McGraw konnte wieder kichern. Sein Kichern brachte mich zum Kichern, und da wusste ich, wo ich sein wollte.
    »Junior!«, sagte er und umarmte mich, als ich aus dem Flugzeug kam. »Jimbo«, sagte ich, »du rettest mir das Leben.«
    Nur acht Monate waren vergangen, seit ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte, aber er war kaum wiederzuerkennen. Er war größer, älter, röter und glich nicht mehr einem jungen Babe Ruth, sondern einem jungen Steve. Er legte dieses vertraute Gehabe an den Tag, dieses Selbstvertrauen, und er strahlte sein eigenes unwiderstehliches Lächeln ab.
    »Wo ist McGraw?«, fragte ich.
    »Arbeitet. Dein Cousin ist der neueste Lakai im hiesigen Hotel.«
    Ich musste lachen, dann verstummte ich. »Worüber lache ich eigentlich? Brauchen sie vielleicht noch einen Lakai?«
    Es war ein herrlicher Juninachmittag. Der Himmel leuchtete stahlblau, die Luft roch nach Eiswasser. Jimbo hatte das Verdeck an seinem Jeep heruntergelassen, und als wir außerhalb von Denver in die Vorberge fuhren, flogen uns die Haare wie wild um den Kopf. Als wir einen steilen Hügelkamm passierten, gab der Jeep ein misstönendes Röhren von sich. Ich blickte nach rechts und sah, dass nicht der Jeep den Lärm verursachte, sondern eine neben der Straße rumorende Büffetherde. Dann, direkt vor mir, sah ich zum ersten Mal die Rockies. Verglichen damit war der Camelback Mountain ein Pickel. Ich heulte auf, und Jimbo lachte, als hätte er persönlich die Berge dorthin gepflanzt. Insgeheim hoffte ich, dass diese Berge – wie gewisse Männer – nicht imposanter waren, wenn man sie aus der Ferne betrachtete.
    Über den Motorlärm erkundigte sich Jimbo nach der Gang im Publicans. Ich war drauf und dran, ihm die Sache mit Smelly zu erzählen, aber ich fand, dass ich mich lange genug im Dunkel bewegt hatte, und jetzt wollte ich die glitzernde Bergsonne genießen und nichts sagen, was den Augenblick überschattet hätte. Außerdem wollten wir später McGraw in einer Kneipe treffen. Dann konnte ich es beiden erzählen.
    Ich lehnte mich zurück und hörte Jimbos Kassette zu. Allman Brothers. »Blue Sky.«
     
    You’re my blue sky.
    You’re my sunny day.
    Lord you know it makes me high
    When you turn your love my way, yeah.
     
    Jimbo spielte Luftgitarre und steuerte mit den Knien, während der Jeep die Bergwiesen erklomm und wir beide mitsangen. Schafsböcke, die wie stolze Ballerinen auf den hohen Felsen thronten, blickten auf uns herab. Mein Kopf fühlte sich langsam an wie ein Luftballon an einem Faden. Der Höhenunterschied, sagte Jimbo. Der Jeep fuhr ächzend über einen steilen Pass, den ich für die Great Divide, die kontinentale Wasserscheide hielt.
    »Hab ’ne Überraschung für dich«, sagte Jimbo. Er zog die Allman-Brothers-Kassette aus der Anlage und legte eine andere ein. Sinatras Stimme dröhnte aus den Boxen. Jimbo lachte, und ich klopfte ihm fest auf die Schulter.
    Ein paar Meilen weiter fing der Jeep zu stottern an. Jimbo überprüfte die Messgeräte. »Mist«, sagte er, riss das Steuer nach rechts und holperte auf den Randstreifen. Er stieg aus und öffnete die Haube. Der Motor qualmte.
    »Könnte sein, dass wir hier eine Weile stehen«, sagte er und spähte auf die am Horizont untergehende Sonne.
    Er klang besorgt. Ich war es ausnahmsweise nicht. Während Sinatras Stimme an den nackten Felswänden widerhallte, saß ich vollkommen zufrieden auf dem Dach dieses nutzlosen Sterns und kostete die Sonne aus. Mich interessierte nicht, wie viel Zeit uns blieb, bis sie hinter den Bergen verschwinden würde. Einen wunderbaren Augenblick lang – und wer wollte mehr vom Leben verlangen – fehlte mir nichts, und ich war wunschlos glücklich.
     

 

EPILOG
     
     
     
    Keep me away from porter or whiskey
    Don’t play anything sentimental it’ll make me cry
    I’ve got to go back my friend
    Is there really any need to ask why.
     
    – Van Morrison, »Got to Go Back«

 
     
     

 | EINER VON VIELEN
     
     
     
    Am 11. September 2001 rief mich meine Mutter

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