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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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in Der Unsichtbare.
    Mir persönlich gefiel Onkel Charlies Aussehen. Lange bevor Glatzköpfigkeit in Mode kam und lange vor Bruce Willis war Onkel Charlie glatt – und cool. Oma sagte mir jedoch, Onkel Charlie könne seinen Anblick nicht ertragen und schrecke vor jedem Spiegel zurück, als wäre es ein geladenes Gewehr.
    Für mich war das Einzigartige an Onkel Charlie nicht sein Aussehen, sondern wie er redete – eine verrückte, schrille Fusion von gehobenem Wortschatz und Gangsterslang, durch die er sich anhörte wie eine Kreuzung zwischen Oxford-Dozent und Mafia-Boss. Noch seltsamer jedoch war, dass er sich, nachdem er ungeniert einen Schwall vulgärer Wörter von sich gegeben hatte, dafür entschuldigte, wenn er ein ausgefallenes Wort benutzte, als wäre seine Gelehrsamkeit schockierender als seine profane Ausdrucksweise. »Ich darf doch ›Evidenz‹ sagen, oder?«, fragte er etwa. »Ich darf doch ›auffassungsschnell‹ sagen?« Onkel Charlie hatte Opas Liebe zu Wörtern geerbt, nur sprach er im Gegensatz zu Opa jedes Wort genau und besonders deutlich aus. Manchmal hatte ich den Eindruck, Onkel Charlie wollte vielleicht nur angeben und es Opa unter die Nase reiben, dass er nicht stotterte.
    Kurz nachdem die Stimme verschwand, widmete ich Onkel Charlie mehr Aufmerksamkeit. Wenn er sich an den Tisch setzte, hörte ich zu kauen auf und starrte ihn an, klebte an jedem seiner Worte. Manchmal schwieg er während des gesamten Essens, aber wenn er etwas sagte, ging es immer um das gleiche Thema. Nach dem Essen schob er den Teller von sich, zündete sich eine Marlboro Red an und ergötzte uns zum Nachtisch mit einer Geschichte aus dem Dickens. Er erzählte uns von zwei Männern, die beim Armdrücken eine Wette »auf Leben und Tod« abgeschlossen hatten: Der Verlierer musste im Yankee Stadium ein ganzes Spiel lang eine Kappe der Boston Red Sox tragen. »Danach ist der Junge erledig«, sagte Onkel Charlie kichernd. Eines Abends erzählte er uns, wie Steve und die Männer aus der Bar einen Entenmann’s-Lastwagen »entführten«. Sie klauten Hunderte von Kuchen und lieferten sich eine hitzige Schlacht in und vor der Bar, bewarfen sich und unbeteiligte Zuschauer auf der Plandome Road mit Vanillepudding und Baisers. Onkel Charlie nannte das Ganze ein Entenmann’s Gettysburg – die Verwundeten troffen von Marmelade. Bei einer anderen Gelegenheit beschrieb Onkel Charlie, wie Steve und die Gang eine Flotte alter Mapperkisten kauften und sie auf Stock Cars frisierten. Sie füllten den Kofferraum mit Zement, schweißten die Türen zu und parkten die Autos an der Plandome Road. Am nächsten Tag wollten sie ein Feld suchen, um ihr eigenes Karambolage-Derby zu inszenieren, aber sie kamen ins Bechern und Steve konnte es nicht abwarten. Um drei Uhr morgens rasten sie die Plandome Road hoch und runter und rammten sich gegenseitig mit halsbrecherischer Geschwindigkeit. Die Polizei fand es nicht sehr lustig. Überhaupt fand die Polizei die Vorgänge im Dickens nur selten lustig, prahlte Onkel Charlie. Speziell mit einem Cop, einem Spießer, der von einem Polizeihäuschen in der Nähe des Memorial Field aus operierte, lagen die Männer in der Bar im Dauerstreit. Einmal stellten sie ziemlich spät eine Gruppe auf die Beine, griffen das leere Häuschen mit brennenden Pfeilen an und brannten es bis auf die Grundfesten nieder.
    Brennende Pfeile? Karambolage-Derby? Tortenschlachten? Für mich klangen die Vorgänge im Dickens zugleich albern und schlimm, wie ein Kindergeburtstag auf einem Piratenschiff. Ich wünschte mir sehnlichst, meine Mutter wäre von Zeit zu Zeit auch ins Dickens gegangen und hätte meine Großeltern mitgenommen, denn alle hätten sie gut eine Dosis Unsinn vertragen können. Aber meine Mutter trank so gut wie gar nicht, Oma gönnte sich nur an ihrem Geburtstag ein paar Daiquiris, und Opa trank zwei Bier zum Abendessen – nie mehr, nie weniger. Er sei zu geizig, um Alkoholiker zu werden, sagte meine Mutter, allerdings vertrug er auch nicht viel. Wenn er an Feiertagen ein Glas Jack Daniel’s trank, fing er zu singen an: »Chicky in the car and the car won’t go – that’s how you spell Chicago!« Dann gab er auf dem zweihundertjährigen Sofa den Geist auf, und sein Schnarchen war lauter als der T-Bird.
    Nach außen hin wirkte Onkel Charlie nicht wie jemand, den die Albernheiten im Dickens ansprechen könnten. Er war zu melancholisch, zu voll von langen, tiefen Seufzern. Für mich war er ein Rätsel, genau wie meine

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