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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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konnte die diversen drohenden Tragödien durchaus benennen. Sie fürchtete sich vor Lungenentzündung, Straßenräubern, Ripptiden, Meteoren, betrunkenen Autofahrern, Drogensüchtigen, Serienkillern, Tornados, Ärzten, skrupellosen Ladenbesitzern und den Russen. Wie tief Omas Ängste saßen, dämmerte mir eines Tages, als sie ein Lotterielos kaufte und bei Bekanntgabe der Zahlen vor dem Fernseher saß. Als die ersten drei Ziffern übereinstimmten, begann sie fieberhaft zu beten, die nächsten drei nicht zu haben. Sie hatte Angst, ihr Herz könnte aussetzen, wenn sie gewinnen würde.
    Ich bemitleidete Oma und verdrehte die Augen über sie, aber dennoch merkte ich, dass ich mir mit ihr Sorgen machte. Ich war ohnehin schon ein schrecklicher Schwarzseher – das wusste ich und es beunruhigte mich – und deshalb befürchtete ich, dass ich, wenn ich zu viel Zeit mit Oma verbringen und ihre Kümmernisse zu meinen Sorgen addieren würde, irgendwann vor Angst wie gelähmt wäre. Außerdem brachte mir Oma immer Mädchensachen wie Bügeln und Sticken bei, und obwohl ich gern Neues lernte, war ich mir nicht sicher, in welche Richtung mich solche Fertigkeiten verändern könnten.
    Doch so sehr ich Omas Einfluss fürchtete, sehnte ich mich auch nach ihrer Aufmerksamkeit, denn sie war der freundlichste Mensch im ganzen Haus. Wenn sie mich also in die Küche zu einem Stück Kuchen einlud, verzichtete ich in der Regel auf meinen Thron in Onkel Charlies Bett und folgte ihr dicht auf den Fersen.
    Bevor ich den ersten Bissen Kuchen im Mund hatte, war sie schon mitten in einer Geschichte. Onkel Charlie war ein begnadeter Geschichtenerzähler, genau wie meine Mutter, aber Oma war eine Meisterin. Sie hatte ihr Handwerk als junges Mädchen gelernt, als sie häufig in die Kinos in Hell’s Kitchen ging, das irische Viertel New Yorks. Nachdem sie jeden Western oder Liebesfilm, der gerade lief, mehrmals gesehen hatte, ging sie in der Abenddämmerung nach Hause, und dort fielen die ärmeren Kinder im Viertel, die sich keine Kinokarte leisten konnten, über sie her. Umgeben von diesem Mob, den ich mir als Mischung aus harten Jungs und kleinen Strolchen vorstellte, spielte Oma Szenen mit Dialogen nach, und die Kids kriegten sich nicht mehr ein, applaudierten und vermittelten der kleinen Margaret Fritz vorübergehend das Gefühl, ein Filmstar zu sein.
    Oma kannte ihr Publikum. Sie legte immer Wert auf eine Moral, die ihre Zuhörer auf sich beziehen konnten. Mir beispielsweise erzählte sie von ihren Brüdern, drei bulligen Iren wie aus Grimms Märchen. »Diese Jungs ließen sich nichts gefallen«, sagte Oma, es war ihre Version von: »Es waren einmal …« Die klassische Geschichte über die Gebrüder Fritz handelte von dem Abend, als sie nach Hause kamen und ihren Vater dabei erwischten, wie er ihre Mutter verprügelte. Obwohl sie noch kleine Jungen in meinem Alter waren, gingen sie ihrem alten Herrn an die Kehle und sagten ihm: »Wenn du Momma noch einmal anrührst, bringen wir dich um.« Moral: Echte Männer kümmern sich um ihre Mütter.
    Von ihren Brüdern blendete Oma über zu Geschichten von den Byrnes, meinen anderen Verwandten, die ein Stück weiter östlich auf Long Island lebten. (Ich konnte mir nie merken, wie sie mit mir verwandt waren – sie waren die Enkel von Omas Schwester.) Es gab zehn Byrne-Kinder – eine Tochter und neun Söhne, die Oma auf ein Podest mit ihren Brüdern stellte. Die Byrne-Jungen besäßen die gleiche Kombination aus Muskeln und Anstand, sagte sie, und hielt sie mir als »perfekte Gentlemen« vor, was mich ärgerte. Die konnten leicht perfekt sein, dachte ich, schließlich hatten sie einen Vater. Onkel Pat Byrne war dunkel und sah, wie schwarzhaarige Iren oft, sehr gut aus; außerdem spielte er mit seinen Jungen jeden Abend nach der Arbeit Football.
    Für meine acht Jahre war ich ungewöhnlich leichtgläubig, aber ich vermochte dennoch den Hintergedanken zu erraten, der in vielen von Omas Geschichten steckte. Obwohl sie meinen Vater nicht mochte, begriff sie, was seine Stimme mir bedeutete und was ich verlor, als seine Stimme verschwand, und deshalb tat sie ihr Bestes, mir neue männliche Stimmen zu liefern. Ich war dankbar, ahnte aber auch, dass unsere Kuchen-und-Geschichten-Sitzungen eine weitere Lücke füllen sollten. Oma musste für meine Mutter einspringen, die immer länger arbeitete, weil sie entschlossener denn je war, mit mir aus Opas Haus zu entkommen.
    Als Oma und ich zunehmend mehr Zeit

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