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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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– wie oft?« Natürlich ist es möglich, dass sie keine Ahnung hatte, was alles bedeutete. Aber ich vermute, sie wollte es schlicht nicht wissen.
    In Omas Augen konnte Onkel Charlie nichts falsch machen. Er war ihr einziger Sohn, und die zwischen ihnen bestehende Bindung kam mir vertraut vor. Im Gegensatz zu meiner Mutter jedoch bestand Oma bei ihrem Sohn nicht auf Respekt und Höflichkeit. Ganz gleich, wie Onkel Charlie mit Oma redete – und wenn er verkatert war, konnte er ziemlich fies sein –, sie verhätschelte ihn, war völlig vernarrt in ihn, nannte ihn ihren »armen Bubi«, weil sein Pech ein unerschöpfliches Mitgefühl in ihr weckte. Zum Glück gibt es Steve, sagte sie oft. Steve gab ihrem Sohn eine Arbeit in seiner schönen dunklen Bar, als Onkel Charlie jede Menge schmerzlicher und letztlich vergeblicher Injektionen in die Kopfhaut verabreicht wurden. Onkel Charlie brauchte einen Platz, um sich zu verstecken, und den bot ihm Steve. Steve rettete Onkel Charlie das Leben, sagte Oma, und ich begriff, sie machte das Gleiche, indem sie Onkel Charlie in seinem alten Kinderzimmer wohnen ließ, an dessen Wänden Tapeten mit Comic-Baseballspielern hingen, die noch aus der Zeit stammten, als er in meinem Alter war.
    Wenn Onkel Charlie im Dickens war, hing ich abends oft in seinem Zimmer herum und stöberte in seinen Sachen. Ich blätterte seine Wettscheine durch, roch an seinen Dickens-T-Shirts, räumte seine Kommode auf, die von Geldscheinen übersät war. Überall lagen Fünfziger und Hunderter – und das in einem Haus, in dem Oma oft das Geld für Milch fehlte. Manchmal überlegte ich, ob ich ein paar Scheine nehmen und meiner Mutter schenken sollte, aber ich wusste, sie würde es nicht annehmen und sauer auf mich sein. Ich stapelte die Scheine in ordentlichen Haufen und stellte fest, dass Ulysses Grant wie einer der Männer aus der Softballmannschaft aussah. Dann machte ich mich auf Onkel Charlies Bett lang, lehnte mich an sein Gänsefederkissen und spielte Onkel Charlie. Ich sah mir die Mets an und tat so, als hätte ich, wie Onkel Charlie immer sagte, »schwere Kohle« auf das Spiel gesetzt. Ich fragte mich, ob Onkel Charlie auch jemals schwere Kohle gegen die Mets wettete, eine Sache, die mich mehr beunruhigt hätte als zu wissen, dass er das Gesetz brach.
    Eines Abends, als das Spiel wegen Regens verschoben wurde, wechselte ich den Kanal, in der Hoffnung, einen alten Abbott-und-Costello-Film zu finden, und landete bei Casablanca. »Ich bin schockiert – zutiefst schockiert – mit eigenen Augen zu sehen, dass hier gespielt wird.« Ich setzte mich auf. Dieser Mann da im Frack, das war Onkel Charlie. Dieses Hundegesicht, der schwermütige Blick, das Stirnrunzeln. Und Humphrey Bogart sah nicht nur aus wie Onkel Charlie – abgesehen von den Haaren –, er redete auch wie Onkel Charlie; die Lippen gingen immer nur so weit auseinander, dass eine Zigarette dazwischen passte. Wenn Bogart sagte: »Ich schau dir in die Augen, Kleines«, sträubten sich mir die Nackenhaare, denn es hörte sich an, als wäre Onkel Charlie bei mir im Zimmer. Bogart lief sogar wie Onkel Charlie, hatte diesen Flamingo-mit-Knieschaden-Gang. Und der Hammer: Bogart verbrachte jede wache Stunde in einer Bar. Anscheinend hatte auch er eine Pechsträhne hinter sich, weshalb er in einer Bar untertauchte, zusammen mit vielen anderen Flüchtlingen, die mit der Welt Verstecken spielten. Mir fiel es nicht schwer, das Dickens romantisch zu sehen, aber nach Casablanca wurde ich ein hoffnungsloser Fall. Mit acht Jahren träumte ich ständig davon, ins Dickens zu gehen, so wie andere Jungen von einem Besuch in Disneyland träumen.
     
     
     
7 | NOKOMIS
     
     
    Wenn Oma mich in Onkel Charlies Zimmer erwischte, versuchte sie mich herauszulocken. Sie kam mit einem Stapel sauberer Dickens-T-Shirts herein, die sie in die Kommode einräumen wollte, sah mich ausgestreckt auf dem Bett liegen und warf mir einen bösen Blick zu. Dann wanderten ihre Augen durch das Zimmer – Geldstapel, Wettscheine, Hüte, Würfel, Zigarettenkippen – und ihre eisblauen Augen verdunkelten sich. »Es gibt Kuchen von Entenmann’s«, sagte sie. »Komm, wir essen ein Stück.«
    Sie sprach abgehackt und bewegte sich verhuscht, als enthielte das Zimmer etwas Ansteckendes, als wären wir beide in Gefahr. Ich dachte nicht weiter darüber nach, denn Oma hatte immer vor irgendwas Angst. Sie nahm sich jeden Tag Zeit für ihre Sorgen. Und es waren keine namenlosen Sorgen. Sie

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