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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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Mutter. Und je aufmerksamer ich ihn beobachtete, umso rätselhafter wurde er mir.
    Jeden Nachmittag rief ein Mann mit einer Reibeisenstimme bei uns an und wollte Onkel Charlie sprechen. »Ist Chas da?«, fragte der Mann; er redete sehr schnell, als wäre jemand hinter ihm her. Tagsüber schlief Onkel Charlie meistens, und alle kannten die Regel. Rief jemand aus dem Dickens für Onkel Charlie an, Nachricht auf einen Zettel schreiben. Rief Mr Sandman an, sofort Onkel Charlie wecken.
    Meistens fiel diese Aufgabe mir zu. Ich ging gern ans Telefon, denn ich dachte immer, es könnte die Stimme sein, und wenn es Mr Sandman war, sagte ich, er möge bitte warten, dann eilte ich durch den Flur zu Onkel Charlies Zimmer, klopfte leise an und öffnete die Tür einen Spalt. »Onkel Charlie?«, sagte ich. »Der Mann ist am Telefon.«
    Aus der feuchten Dunkelheit hörte ich das Quietschen der Bettfederung. Dann ein Stöhnen, gefolgt von lautem Seufzen. »Sag ihm, ich komme.«
    Wenn Onkel Charlie ans Telefon kam – er zog sich erst den Morgenmantel an und klemmte sich eine nicht angezündete Zigarette zwischen die Zähne –, kauerte ich hinter dem zweihundertjährigen Sofa. »Hey«, sagte Onkel Charlie zu Mr Sandman. »Ja, ja, geht gleich los. Rio setzt fünfmal auf Cleveland. Tony zehnmal auf Minnesota. Alle setzen fünfzehnmal auf die Jets. Für mich die Bears auf Punkte. Sie müssten eigentlich drüber liegen. Aha. Achteinhalb, oder? Okay. Und wo ist bei den Sonics Unter? Zweihundert? Aha. Dann nehme ich Unter. Gut. Wir sehen uns im Dickens.«
    Meine älteren Cousinen erzählten mir, Onkel Charlie sei ein »Spieler«, er mache etwas Gesetzwidriges, aber meiner Ansicht nach konnte es nicht allzu gesetzwidrig sein – vermutlich wie bei Rot über die Ampel gehen –, bis ich irgendwann feststellte, dass sich die Welt des Spielens und die besondere Myopie des Spielers meinem Vorstellungsvermögen entzogen. Es geschah, als ich meinen Freund Peter besuchte. Seine Mutter kam an die Tür. »Sieht so aus, als müsstest du das schnellstens ausziehen«, sagte sie und zeigte auf meine Brust. Ich blickte nach unten. Ich trug mein Lieblingssweatshirt – WORLD CHAMPION NEW YORK KNICKS –, das mir fast genauso teuer war wie meine Kuscheldecke.
    »Warum?«, fragte ich entgeistert.
    »Die Knicks haben gestern Abend verloren. Sie sind nicht mehr Meister.«
    Ich brach in Tränen aus. Dann rannte ich nach Hause, raste durch Opas Hintertür, stürmte in Onkel Charlies Schlafzimmer – ein unglaublicher Verstoß, in das Allerheiligste einzudringen, obwohl Mr Sandman nicht am Telefon war. Onkel Charlie fuhr im Bett hoch. »Wer ist da?«, rief er. Er trug eine Lone-Ranger-Maske, nur ohne Augenlöcher. Ich erzählte ihm, was Peters Mutter mir gesagt hatte. »Die Knicks haben gestern Abend doch nicht verloren!«, heulte ich. »Oder? Das kann nicht sein! Oder doch?«
    Er klappte die Maske hoch, ließ sich zurück ins Bett sinken und griff nach der Marlboro-Schachtel, die auf dem Nachttisch lag. »Es ist noch viel schlimmer«, sagte er, ohne zu seufzen. »Sie liegen nicht drüber.«
    Im Sommer beschlagnahmten Onkel Charlie und die Männer aus dem Dickens Opas Garage und veranstalteten Pokerturniere mit hohen Einsätzen, die sich über Tage hinzogen. Die Männer spielten sechs Stunden lang Karten, machten dann einen Abstecher ins Dickens, um etwas zu essen, gingen nach Hause, liebten ihre Frauen, schliefen, duschten und kamen wieder in die Garage, wo das Spiel noch immer voll im Gange war. Ich lag gern spätabends im Bett, bei offenem Fenster, und hörte zu, wie die Stimmen erhöhten, mitgingen und ausstiegen. Ich hörte, wie Karten gemischt wurden, Pokerchips klackerten und Büsche raschelten, wenn die Spieler einen Ort zum Pinkeln suchten. Für mich waren die Stimmen tröstlicher als ein Gutenachtlied, denn ich musste zumindest ein paar Tage keine Angst haben, als Letzter wach zu sein.
    Während ich Onkel Charlies Spielorgien mit wachsendem Interesse verfolgte, taten die Erwachsenen bei Opa so, als gäbe es sie gar nicht. Vor allem Oma. Eines Tages klingelte das Telefon, und ich kam nicht rechtzeitig ran, also nahm sie ab. Da es nicht Mr Sandman war, weigerte sie sich, Onkel Charlie zu wecken. Der Anrufer versuchte sie umzustimmen. Oma blieb hart. »Was soll ich ausrichten?«, fragte sie und fischte aus der Tasche ihres Morgenmantels eine Einkaufsliste samt Bleistiftstummel. »Kann losgehen. Ja. M-hm. Boston zehnmal? Pittsburgh – fünfmal? Kansas City

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