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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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mir von der Stimme aufgebaut hatte, zunehmend schrumpfen. Trotzdem werde ich die Szene dort auf der Vortreppe nie vergessen, weil meine Mutter mir an jenem Nachmittag den ersten schmerzlichen Schnitt versetzte.
    Mein Vater war eine unwahrscheinliche Kombination von abstoßenden und unwiderstehlichen Eigenschaften. Charismatisch, sprunghaft, gebildet, selbstmörderisch, urkomisch, unbeherrscht – und von Anfang an gefährlich. An ihrer Hochzeit lieferte er sich eine Schlagerei. Als er in betrunkenem Zustand meine Mutter schubste, protestierte sein Trauzeuge gegen eine solche Behandlung der Braut, und mein Vater schlug ihn nieder. Mehrere Gäste versuchten meinen Vater eilends zurückzuhalten, und als die Polizei kam, rannte er auf dem Gehweg auf und ab und pöbelte die Leute an.
    Zur Hochzeitsreise fuhr mein Vater mit meiner Mutter nach Schottland. Bei ihrer Rückkehr fand sie heraus, dass die Reise eigentlich als Hauptgewinn bei einem Hörerwettbewerb seines Senders gedacht war. Mein Vater hatte Glück, dass er nicht verhaftet wurde. In den zwei Jahren ihrer Ehe näherte er sich stets der Gesetzwidrigkeit, freundete sich mit Gangstern an, bedrohte Taxifahrer und Kellner, schlug einen seiner Vorgesetzten zusammen. Am Ende wandte er seine ungesetzlichen Methoden gegen meine Mutter. Als ich sieben Monate alt war, warf er sie aufs Bett und versuchte, sie mit einem Kissen zu ersticken. Sie befreite sich. Zwei Wochen später ging er wieder auf sie los. Sie konnte sich erneut befreien, nur jagte er sie diesmal durch die Wohnung und stellte sich ihr im Bad mit einem Rasiermesser in der Hand in den Weg. Er beschrieb ihr in grausigen Einzelheiten, wie er ihr Gesicht zerstückeln werde. Dann stürzte er sich auf sie, und nur mein Geschrei im Nebenzimmer brach den Bann seiner Wut. Das war der Tag, an dem wir ihn verließen. Der Tag, an dem wir bei Opa ankamen, weil wir sonst nirgendwohin konnten.
    »Warum hast du ihn geheiratet?«, fragte ich an jenem Tag auf der Vortreppe.
    »Ich war jung«, sagte sie. »Und dumm.«
    Eigentlich wollte ich nicht, dass sie noch mehr davon erzählte. Aber eines musste ich noch wissen, bevor ich das Thema Vater für immer abschloss.
    »Warum hat mein Vater einen anderen Namen als wir?«
    »Er benutzt ein Alias.«
    »Was ist ein Alias?«
    »Ein Deckname.«
    »Und wie ist sein richtiger Name?«
    »John Joseph Moehringer.«
    »Mein Vater hat mich Junior genannt«, sagte ich. »Warum?«
    »Oh.« Sie runzelte die Stirn. »Hör zu. Dein gesetzlicher Name ist John Joseph Moehringer, Jr. Aber der Name John gefiel mir nicht, und Joseph wollte ich dich nicht nennen. Und Junior auch nicht. Deshalb haben dein Vater und ich uns geeinigt, dich JR zu nennen. Wie in Junior.«
    »Du meinst, ich heiße genauso wie mein Vater?«
    »Ja.«
    »Und JR steht für – Junior?«
    »Ja.«
    »Weiß das jemand?«
    »Na ja, Oma. Und Opa. Und …«
    »Können wir das für uns behalten? Für immer? Können wir den Leuten bitte einfach sagen, dass mein richtiger Name JR ist? Bitte.«
    Sie sah mich so traurig an wie noch nie zuvor.
    »Klar«, sagte sie.
    Sie umarmte mich, und dann hakten wir unsere kleinen Finger ineinander. Unsere erste gemeinsame Lüge.
     
     
     
6 | MR SANDMAN
     
     
    Ich wollte nur eine Stimme ersetzen, und dazu brauchte ich nicht viel. Nur ein anderes männliches Wesen, einen neuen Scheinvater. Dennoch war mir klar, dass selbst ein Scheinvater besser wäre, wenn ich ihn sehen könnte. Männlichkeit wird durch Nachahmung bestimmt. Um ein Mann zu werden, muss ein Junge einen Mann sehen. Mit Opa hatte es nicht geklappt. Und so wandte ich mich natürlich dem einzigen anderen Mann in meiner Umgebung zu, Onkel Charlie – und Onkel Charlie war eine Nummer für sich.
    Mit Anfang zwanzig fielen Onkel Charlie die Haare auf dem Kopf aus, erst einzeln, dann in kleinen Strähnen, dann in Büscheln und schließlich in ganzen Soden, gefolgt von den Haaren auf Brust, Beinen und Armen. Irgendwann wehten auch seine Wimpern, Augenbrauen und Schamhaare davon wie Löwenzahnsporen. Die Ärzte diagnostizierten Alopezie, eine seltene Krankheit des Immunsystems. Die Krankheit machte Onkel Charlie fertig, doch die eigentliche Verwüstung fand eher innerlich als äußerlich statt. Nachdem die Alopezie seinen Körper entblößt hatte, legte sie seine Psyche bloß. Er wurde krankhaft affektiert und verließ das Haus nicht mehr ohne Hut und Sonnenbrille, eine Verkleidung, die ihn noch auffälliger machte. Er sah aus wie der Forscher

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