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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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einen tranceartigen Zustand erreicht hatte. Ich benutzte mein Mantra als Zauberspruch, um Katastrophen abzuwenden, und als Knüppel, um besorgniserregenden Gedanken über Katastrophen zu Leibe zu rücken. Wahrscheinlich falle ich zurück und muss die sechste Klasse wiederholen. Ich mache mir keine Sorgen über etwas, das nicht passiert. Wahrscheinlich schaffe ich die Schule nicht und werde nie in der Lage sein, mich um meine Mutter zu kümmern. Ich mache mir keine Sorgen über etwas, das nicht passiert. Vermutlich bin ich genau wie mein Vater. Ich mache mir keine Sorgen …
    Und es wirkte. Nachdem ich mein Mantra ungefähr tausendmal wiederholt hatte, verkündete Mrs Williams, wir würden eine Pause in unserem strammen Arbeitsplan einlegen. Alle Schüler jubelten, ich am lautesten. »Stattdessen«, sagte Mrs Williams, »werden wir das jährliche Vater-Sohn-Frühstück der sechsten Klassen vorbereiten!« Ich hörte auf zu jubeln. »Heute«, fuhr sie fort und hielt Buntpapier und Kleber hoch, »wollen wir die Einladungen entwerfen und schreiben. Nach der Schule nehmt ihr sie mit nach Hause und gebt sie euren Vätern. Am Samstagvormittag macht ihr euren Vätern Frühstück und lest ihnen aus unserer Schularbeit vor; das ist eine gute Gelegenheit, einander besser kennen zu lernen.«
    Nach Unterrichtsschluss rief mich Mrs Williams zu sich ans Pult. »Was ist los?«, fragte sie.
    »Nichts.«
    »Ich konnte es an deinem Gesicht sehen.«
    »Ich hab keinen Vater.«
    »Oh. Hat er – ist er – gestorben?«
    »Nein. Das heißt, vielleicht. Ich weiß es nicht. Ich hab eben keinen.« Sie starrte aus dem Fenster neben ihrem Pult, dann drehte sie sich wieder zu mir.
    »Gibt es einen Onkel?«, fragte sie.
    Ich runzelte die Stirn.
    »Einen Bruder?«
    Ich dachte an McGraw.
    »Jemand, der einspringen könnte?«
    Jetzt sah ich aus dem Fenster.
    »Darf ich bitte einfach nicht zu dem Frühstück kommen?«
    Mrs Williams telefonierte mit meiner Mutter, die einen weiteren Gipfel im Esszimmer einberief. »Wie kann man nur so verblödet sein!«, sagte Oma. »Als ob nicht alle wüssten, wie es heutzutage in der Welt aussieht.«
    Meine Mutter verrührte Milch in ihrem Kaffee, ich saß neben ihr. »Ich hätte der Schule von JRs Vater erzählen sollen«, sagte sie. »Aber ich wollte nicht, dass er behandelt wird wie ein – ich weiß nicht.«
    »Ich will euch beiden was sagen«, meinte Oma. »Und springt mir nicht gleich an die Kehle. Aber, na ja, was haltet ihr von Opa?«
    »Bloß nicht das«, stöhnte ich. »Können wir nicht einfach ein Embargo gegen das Frühstück verhängen?«
    Opa kam ins Esszimmer. Er trug verfleckte Hosen, ein mit Haferbreiresten verkrustetes Flanellhemd und schwarze Schuhe mit Löchern an den Zehen, durch die man seine ebenfalls löchrigen Socken sehen konnte. Wie immer, stand auch sein Hosenlatz offen.
    »Wo ist der Krümelkuchen, den du so hochgelobt hast?«, fragte er Oma.
    »Wir müssen dich was fragen«, sagte Oma.
    »Sprich, Dumme Frau. Sprich.«
    Meine Mutter versuchte es. »Wärst du bereit, beim Vater-Sohn-Frühstück in der Schule für JRs Vater einzuspringen?«, fragte sie. »Diesen Samstag?«
    »Du müsstest dir eine saubere Hose anziehen«, sagte Oma. »Und dich kämmen. So kannst du nicht hingehen.«
    »Halt deine verfluchte Klappe!« Er schloss die Augen und kratzte sich am Ohr. »Ich mach es«, sagte er. »Und jetzt hol den verfluchten Kuchen. Dumme Frau.«
    Oma ging mit Opa in die Küche. Meine Mutter bedachte mich mit ihrer ausdruckslosen Miene. Wahrscheinlich stellte sie sich vor, was passieren würde, wenn Opa Mrs Williams mit Dumme Frau anreden würde.
    Am Samstagmorgen verließen meine Mutter und ich ziemlich früh unsere Wohnung in Great Neck. Ich trug einen Cordanzug. Bei Opa fummelten meine Mutter und Oma an meiner Krawatte herum, die braun war und breiter als der Läufer auf dem Esstisch. Sie konnten beide keinen Windsor-Knoten.
    »Vielleicht können wir die Krawatte weglassen«, sagte Oma. »Nein!«, erwiderte ich.
    Wir hörten Schritte auf der Treppe. Alle drei drehten wir uns um und sahen Opa langsam herunterkommen. Sein glänzendes Haar war ordentlich nach hinten gekämmt, das Gesicht glatt rasiert, dass es bläulich schimmerte; Augenbrauen, Nasen- und Ohrenhärchen waren gezupft und geschnitten. Er trug einen perlgrauen Anzug, den eine schwarze Krawatte und ein Brusttuch aus Leinen betonte. Er sah besser aus als für seine heimlichen samstäglichen Rendezvous.
    »Was ist denn l …, l …,

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