Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
Vom Netzwerk:
die Nachricht ganz beiläufig beim Kaffeetrinken mit Oma in der Küche fallen. Die Kinder gehörten »raus in den Westen«, sagte sie. Wo es Berge gab. Blauen Himmel. Wo die Luft wie Wein war, und die Winter wie Frühling.
    Ich begriff nie, warum Erwachsene bestimmte Dinge machten, aber selbst mir war der wahre Grund für Tante Ruths Umzug nach Arizona klar: Onkel Harry. Mein Verdacht bestätigte sich ein paar Tage später, als Oma mir erzählte, Tante Ruth und Onkel Harry wollten es mit einer Versöhnung probieren, und Tante Ruth hoffte, Onkel Harry könnte sich durch einen Tapetenwechsel bessern und seinen Kindern endlich ein Vater sein.
    Für mich war das Ganze ein schlechter Witz. Gerade hatten McGraw und ich wieder zusammengefunden, und schon wurde er mit sämtlichen Koffern in Tante Ruths Kombi verfrachtet und an einen Ort verschleppt, der so weit entfernt und unbekannt war, dass ich ihn mir nicht vorstellen konnte. Als Tante Ruth ihren Kombi auf die Plandome Road setzte, winkte mir McGraw in seinem Mets-Helm durch die Heckscheibe zu; das war das Letzte, was ich von ihm sah.
    Ich reagierte auf den Verlust von McGraw, indem ich mich noch tiefer in meine drei Hobbys stürzte – Baseball, den Keller, die Bar – und sie zu einer einzigen dreiköpfigen Obsession verknüpfte. Eine Stunde lang warf ich Bälle an die Garage und bildete mir ein, ich sei Tom Seaver, dann ging ich in den Keller und las von Mowgli oder großen Männern. (Dante – der die Hölle verherrlichte!) Und dann packte ich Dschungelbuch und Minuten-Biografien in den Gepäckkorb, schlang meinen Baseball-Handschuh um den Lenker und fuhr mit dem Fahrrad zum Dickens, drehte Achten auf der anderen Straßenseite und beobachtete, wer kam und ging, besonders die Männer. Reich und arm, fein und heruntergekommen – im Dickens verkehrten alle möglichen Männer, und alle gingen mit schwerem Schritt durch die Tür, als laste ein unsichtbares Gewicht auf ihnen. Sie gingen wie ich, wenn meine Schultasche voller Bücher war. Aber wenn sie herauskamen, schwebten sie.
    Nach einiger Zeit radelte ich von der Bar zum Sportplatz, wo die Jungen jeden Nachmittag Baseball spielten. Zog sich das Spiel in die Länge, bekamen wir unweigerlich Besuch. Die Dämmerung war die Geisterstunde, in der die Trinker im Dickens auf die Uhr sahen, ihre Cocktails austranken und nach Hause eilten. Wenn sie uns beim Verlassen der Bar spielen sahen, fühlten sie sich heftig in ihre eigene Kindheit versetzt. Ob Verkäufer oder Anwalt – sie warfen ihre Aktentasche beiseite und baten uns, einmal den Schläger schwingen zu dürfen. Ich warf gerade, als ein solcher Mann auftauchte, grinste und seine Manschetten unterm Jackenärmel vorzog. Er kam auf mich zu wie ein Trainer, der mich zum Einwechseln vorgesehen hat. Kurz vor mir blieb er stehen. »Wer verdammt willst du sein?«, sagte er.
    »Tom Seaver.«
    »Und warum steht auf deinem Hemd ›PI‹?«
    Ich sah auf mein Unterhemd runter, auf das ich mit Filzstift die Zahl »41« gemalt hatte. »Das heißt einundvierzig«, sagte ich. »Die Nummer von Tom Seaver.«
    »Da steht PI. Was soll das – PI? Bist dun Mathegenie oder so was?«
    »Das ist eine Vier und das eine Eins. Verstehen Sie? Tom Terrific.«
    »Freut mich, Tom Terrific. Ich bin stockbesoffen.«
    Er erklärte, er müsse den »Alkohol ausschwitzen«, bevor er zu »seiner kleinen Madame« nach Hause gehe. Deswegen sei er unser Ersatzläufer. Alle Jungen sahen einander an. »Ihr Knallköpfe«, sagte er. »Noch nie von einem Ersatzläufer gehört? Der wird eingewechselt, steht neben der Home Plate und rennt immer los, wenn ein Schlagmann den Ball berührt!«
    »Und wenn keiner den Ball berührt?«
    »Oho!«, sagte er. »Auch noch frech! Das gefällt mir. Schmeiß den Scheißball, Tom.«
    Ich wartete, bis der Ersatzläufer seinen Platz eingenommen hatte. Dann feuerte ich einen Speedball auf den Schlagmann, der ihn langsam in Richtung der dritten Base abtropfen ließ. Der Ersatzläufer sprintete mit ungelenken Bewegungen zur ersten Base, seine Krawatte flatterte hinter ihm her wie ein Fähnchen an einer Autoantenne. Er war meilenweit aus. Aber er rannte weiter, auf die zweite Base zu. Wieder zu spät und aus. Zur dritten. Aus. Egal, wie oft wir ihn abschlugen oder abwarfen, er blieb einfach nicht stehen. Er rannte auf die Home Plate zu. Mit gesenktem Kopf hechtete er nach vorn und landete einen Bauchklatscher auf der Plate, wo er reglos liegen blieb und wir uns um ihn scharten wie die

Weitere Kostenlose Bücher