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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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los?«, fragte er.
    »Nichts«, erwiderten Oma und meine Mutter.
    »Wir können meine Krawatte nicht binden«, sagte ich.
    Er setzte sich auf das zweihundertjährige Sofa und winkte mich zu sich. Ich ging zu ihm und stellte mich zwischen seine Knie. »Dumme Frauen«, flüsterte ich. Er zwinkerte mir zu, dann riss er mir die Krawatte vom Hals. »Die Krawatte ist beschissen«, sagte er, ging nach oben und holte eine aus seinem Schrank, die er mir rasch um den Hals legte und geschickt band. Als er sich unter meinem Adamsapfel zu schaffen machte, roch ich nach Flieder duftendes Aftershave auf seinen Wangen und hätte ihn am liebsten umarmt. Aber schon eilten wir zur Tür hinaus, während Oma und meine Mutter ans hinterher winkten, als gingen wir auf eine lange Seereise.
    Während der Pinto die Plandome Road entlang stotterte, musterte ich Opa. Er sagte kein Wort. Am Shelter Rock hatte er noch immer nichts gesagt und mir wurde klar, das Ganze war ein schrecklicher Fehler. Opa war entweder angespannt, weil er neue Leute traf, oder er ärgerte sich, weil er seinen Samstag opfern musste. Auf alle Fälle war er muffelig, und wenn Opa muffelig war, sagte oder machte er wahrscheinlich etwas, worüber man in Manhasset in den nächsten fünfzig Jahren reden würde. Am liebsten wäre ich aus dem Auto gesprungen und davongerannt, um mich am Shelter Rock zu verstecken.
    Sobald wir jedoch auf den Schulparkplatz bogen, war Opa wie verwandelt. Er zeigte sich nicht von seiner besten Seite, sondern von der eines Fremden. Er stieg aus dem Pinto wie aus einer Limousine bei den Academy Awards, dann schritt er in die Schule, als gehörte der Laden ihm. Ich lief neben ihm her, und als uns der erste Schwarm von Lehrern und Vätern begegnete, legte mir Opa eine Hand auf die Schulter und wurde zu Clark Gable. Sein Stottern verschwand, er wurde sanftmütig.
    Er war abwechselnd liebenswürdig, lustig, bescheiden – und normal. Ich stellte ihn Mrs Williams vor und dachte nach wenigen Minuten, sie könnte sich in den alten Herrn verknallen. »Wir erwarten große Dinge von JR«, schwärmte sie.
    »Er hat den Verstand seiner Mutter«, sagte Opa, die Hände am Rücken verschränkt und aufrecht wie ein Ladestock, als würde man ihm gleich einen Orden an die Brust stecken. »Mir wäre ja lieber, er würde sich auf Baseball konzentrieren. Wissen Sie, der Junge hat einen Wurf, schnell wie ein Gewehr. Der könnte für die Mets an der dritten Base spielen. Da habe ich auch gespielt. Heiße Ecke.«
    »Er hat Glück, dass er einen Opa hat, der für ihn da ist.«
    Die Schüler servierten den Vätern Rührei und Orangensaft, dann setzten sie sich zu ihnen an die langen, mitten im Klassenzimmer aufgestellten Tische. Opa verhielt sich tadellos. Er kleckerte sein Hemd nicht voll, unterdrückte die beunruhigenden Geräusche, die normalerweise anzeigten, dass er satt und die Verdauung im Gange war. Während er seinen Kaffee trank, klärte er die übrigen Väter über verschiedenste Themen auf – amerikanische Geschichte, Etymologie, den Aktienmarkt – und lieferte eine spektakuläre Schilderung des Spiels, in dem er Ty Cobb bei fünf guten Bällen fünf Treffer hatte landen sehen. Die Väter starrten ihn an wie Jungen, die am Lagerfeuer eine Gespenstergeschichte erzählt bekommen, als Opa beschrieb, wie Cobb mit den Füßen voran auf die zweite Base zusprang, »heulend wie eine Gewitterhexe«, die angespitzten Spikes auf die Schienbeine des Gegenspielers gerichtet.
    Als ich Opa seinen Filzhut brachte und ihm in den Mantel half, bedauerten alle, dass er ging. Im Pinto ließ ich meinen Kopf erleichtert an den Sitz sinken und sagte: »Opa, du warst großartig.«
    »Wir leben in einem freien Land.«
    »Vielen Dank«
    »Nicht weitersagen – sonst wollen alle einen.«
    Zuhause ging Opa schnurstracks nach oben, während Oma und meine Mutter mich im Esszimmer ausquetschten. Sie wollten jede Kleinigkeit wissen, doch ich mochte den Bann nicht brechen. Vermutlich hätten sie mir ohnehin nicht geglaubt. Ich versicherte ihnen, dass alles gut gelaufen war und dabei beließ ich es.
    Opa tauchte erst am Nachmittag wieder auf, als das Spiel der Jets begann. Er setzte sich in seiner verfleckten Hose und dem mit Haferbrei verkrusteten Hemd vor den Fernseher. Ich setzte mich zu ihm. Sobald etwas Interessantes passierte, schaute ich ihn unverblümt an, aber er verzog keine Miene. Ich sagte etwas über Joe Namath. Er grunzte. Ich ging zu Oma, um mit ihr über meinen

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