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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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gehörte und der mir manchmal Schokoladenzigaretten schenkte. Da war der Zigarren kauende Besitzer des Papierwarenladens, der meine Mutter immer derart unverblümt angaffte, dass ich ihm am liebsten einen Tritt ans Schienbein verpasst hätte. Außerdem Dutzende mir unbekannter Männer, die aussahen, als seien sie eben mit dem Zug aus der City gekommen, und mehrere mir bekannte Männer in orangefarbenen Dickens-Softballtrikots. Viele Männer saßen auf Barhockern entlang der Theke, einer Backsteinmauer mit massiver goldgelber Eichenplatte. Aber auch in den Ecken standen Männer, in den Schatten, in der Nähe der Telefonkabine, im hinteren Raum – eine riesige bunte Gemeinschaft der Spezies, hinter der ich her war.
    Im Dickens waren auch Frauen, erstaunliche Frauen. Die mir am nächsten war, hatte langes strohblondes Haar und blassrosa Lippen. Ich beobachtete, wie sie einem Mann mit ihrem lackierten Fingernagel über den Nacken fuhr und sich an seinen gewaltigen Arm schmiegte. Mir lief ein Schauer über den Rücken. Zum ersten Mal sah ich körperliche Zuneigung zwischen einem Mann und einer Frau. Als hatte sie mein Schaudern gespürt, drehte sie sich um. »Oh-ooh«, sagte sie.
    »Was ist denn?«
    »Da ist ein Junge.«
    »Wo?«
    »Da drüben. An der Tür.«
    »Hey, zu wem gehört der Kleine?«
    »Schau mich nicht so an.«
    Steve trat aus dem Dunkel.
    »Kann ich dir helfen, mein Sohn?«
    Ich kannte ihn von dem Softballspiel. Er war bei weitem der größte und kräftigste Mann im ganzen Laden. Er hatte krauses Haar, ein dunkelrotes Gesicht, fast mahagonifarben, die Augen waren blaue Schlitze. Dann lächelte er mich mit seinen großen schiefen Zähnen an, und der Barraum schien heller zu werden. Jetzt kannte ich die heimliche Lichtquelle.
    »Hey Steve!«, sagte ein Mann an der Theke. »Gib dem Kleinen einen Drink auf meine Rechnung.«
    »Okay«, sagte Steve. »Kleiner, du wirst von Bobo gedeckt.«
    Rosa Lippen sagte: »Wollt ihr wohl still sein, ihr Idioten. Seht ihr nicht, dass er Angst hat?«
    »Was brauchst du denn, mein Sohn?«
    »Eine Schachtel Marlboro Red.«
    »Donnerwetter.«
    »Der Kleine steht auf starkes Kraut.«
    »Wie alt bist du eigentlich?«
    »Neun. Bald bin ich zehn, am …«
    »Rauchen hemmt das Wachstum.«
    »Die sind für meinen Onkel.«
    »Und wer ist dein Onkel?«
    »Onkel Charlie.«
    Stürmisches Gelächter.
    »Hör dir das an!«, brüllte ein Mann. »Onkel Charlie! Mann, der ist gut!«
    Noch mehr Gelächter, viel mehr. Wenn man alles Lachen auf der Welt zusammennahm, dachte ich, würde es so klingen.
    »Klar«, sagte Steve. »Das ist Chas’ Neffe!«
    »Ruths Kleiner?«
    »Nö, von der andern Schwester«, sagte Steve. »Deine Mutter ist Dorothy, richtig?«
    Ich nickte.
    »Wie heißt du, mein Sohn?«
    Seine Stimme klang herrlich. Warm und rau.
    »JR«, erwiderte ich.
    »JR?« Er kniff die Augen zusammen. »Wofür steht das?«
    »Für nichts. Ist einfach mein Name.«
    »Tatsache?« Er hob eine Augenbraue. »Jeder Name steht für etwas.« Meine Augen wurden größer. Von der Seite hatte ich es noch nie gesehen.
    »Du brauchst einen Spitznamen, wenn du im Dickens verkehren willst«, sagte Steve. »Wenn du nächstes Mal kommst, hast du einen Spitznamen oder wir geben dir einen.«
    »Was liest du denn da?«, fragte Rosa Lippen.
    Ich reichte ihr mein Buch.
    »Mi-nuten-Biografien«, sagte sie.
    »Es handelt von berühmten Männern«, sagte ich.
    »Und ich dachte, du hättest das definitive Buch über Männer geschrieben«, sagte Steve zu der Frau, worauf sie gackernd lachte.
    Der Barmann griff unter die Theke, holte eine Schachtel Marlboro und hielt sie mir hin. Ich trat zu ihm. Alle beobachteten, wie ich den Dollar auf die Theke legte, die Zigaretten nahm und mich dann langsam zurückzog.
    »Komm wieder, Kleiner«, sagte Bobo.
    Schallendes Lachen. Es war so laut, dass keiner meine Antwort hörte. »Ganz bestimmt.«
     
     
     
10 | ERSATZLÄUFER
     
     
    Tante Ruth hob ihr Embargo ungefähr zur gleichen Zeit auf wie die Araber. Ich durfte McGraw, Sheryl und die anderen Cousinen wieder besuchen. Nach der Schule rannte ich die Plandome Road hoch, um McGraw abzuholen, dann rasten wir, völlig aus dem Häuschen über unsere Wiedervereinigung, zum Memorial Field und warfen uns Bälle zu, oder wir angelten im Ententeich. Ein paar Wochen später traf uns etwas noch viel Schlimmeres als ein Embargo. Eine kombinierte Embargo-Überfall-Entführung.
    Tante Ruth wollte mit ihren Kindern nach Arizona ziehen. Sie ließ

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