Tender Bar
Jekyll-Hyde-Großvater zu reden, aber sie steckte mitten im Kochen. Ich ging zu meiner Mutter. Sie hielt ein Nickerchen. Ich weckte sie auf, aber sie sagte, sie sei müde und bat mich, sie noch eine Weile schlafen zu lassen.
Meine Mutter hatte allen Grund, müde zu sein. Sie rackerte sich ab, damit wir die Wohnung in Great Neck halten konnten. Anfang 1975 entdeckten wir jedoch einen weiteren Grund für ihre Müdigkeit. Sie hatte einen Schilddrüsentumor.
In den Wochen vor ihrer Operation war es ungewöhnlich still in Opas Haus, alle machten sich Sorgen. Dank meines Mantras bewahrte ich als Einziger die Ruhe. Als ich mithörte, wie Oma sich leise mit Onkel Charlie über meine Mutter unterhielt, über die Risiken der Operation und die Möglichkeit, dass ihr Tumor bösartig sein könnte, schloss ich die Augen und atmete tief durch. Ich mache mir keine Sorgen über etwas, das nicht passiert.
Am Tag der Operation saß ich unter der Kiefer in Opas Garten und rezitierte mein Mantra vor den Kiefernzapfen, den »Babys der Kiefern«, wie Sheryl mir einmal erklärt hatte. Ich fragte mich, ob die Kiefer der Vater oder die Mutter war. Ich legte die Zapfen näher an den Baum, um sie mit ihrem Vater-Mutter zu vereinigen. Oma erschien. Ein Wunder, sagte sie. Meine Mutter habe die OP überstanden und alles sei gut. Was sie nicht erwähnte, weil sie es gar nicht wissen konnte, war die Tatsache, dass alles mein Verdienst war. Ich hatte mein Mantra benutzt, um meine Mutter zu retten.
Mit einem Verband um den Hals verließ meine Mutter eine Woche später das Krankenhaus und legte sich an unserem ersten Abend in Great Neck sofort ins Bett. Ich aß einen Teller Nudeln und beobachtete sie im Schlaf, sagte dabei leise mein Mantra auf, hauchte es über sie wie eine Decke.
Oma und Opa gratulierten meiner Mutter zu ihrer schnellen Genesung nach der Operation. Wieder ganz die Alte, sagten sie. Aber mir fiel ein Unterschied auf. Die ausdruckslose Miene war häufiger auf ihrem Gesicht zu sehen als jemals zuvor. Sie berührte ihren Verband und sah mich ausdruckslos an, und obwohl sie den Verband irgendwann abnahm, hörten die leeren Blicke nicht auf. Ich saß neben ihr über meinen Hausaufgaben, und wenn ich aufblickte, starrte sie mich an, und ich musste sie dreimal ansprechen, bis ich zu ihr durchdrang. Ich wusste, was sie dachte. Während sie krank war und nicht arbeiten konnte, hatten sich unsere Rechnungen angehäuft. Wir würden die Wohnung in Great Neck aufgeben und wieder zu Opa zurückziehen müssen. Jeden Tag könnte ich aufwachen und sehen, wie meine Mutter auf den Taschenrechner einhackte und mit ihm redete. Jeden Abend könnte sie ihre Hände vors Gesicht schlagen und weinen.
Als der unvermeidliche Augenblick kam, überraschte mich meine Mutter. »Du und ich, wir sind eine Familie«, sagte sie und ließ mich am Küchentisch Platz nehmen. »Aber wir sind auch eine Demokratie. Deshalb möchte ich etwas zur Abstimmung stellen. Vermisst du McGraw und die Cousinen?«
»Ja.«
»Ich weiß. Und genau darüber habe ich oft nachgedacht. Ich habe über vieles nachgedacht. Also dann, mein Schatz. Was hältst du von einem Umzug nach Arizona?«
Bilder schwirrten mir durch den Kopf. McGraw und ich beim Reiten. McGraw und ich beim Bergsteigen. Sheryl und ich beim Halloween-laufen.
»Wann können wir los?«, fragte ich.
»Willst du nicht erst darüber nachdenken?«
»Nein. Wann können wir los?«
»Sobald wir wollen.« Sie lächelte zart, aber wild entschlossen. »Wir leben in einem freien Land.«
11 | FREMDE IM PARADIES
Nur achtzehn Monate in der Wüste hatten McGraw und die Cousinen in das reinste Edelmetall verwandelt. Haare wie Gold, Haut wie Kupfer, die Gesichter ein fantastisches Bronze. Als sie uns am Sky Harbor Airport entgegenrannten, traten meine Mutter und ich einen halben Schritt zurück. Eingepackt in unsere dunklen Mäntel und Wollschals sahen wir nicht nur aus wie Flüchtlinge aus einem anderen Land, sondern fühlten uns auch so. »Ihr seid vielleicht weiß!«, rief Sheryl und hielt ihren Unterarm neben meinen. »Sieh mal! Wie Schokolade und Vanille! Schokolade – Vanille.«
Wir wurden nur von den ältesten drei Schwestern abgeholt, denn es war spät abends. Auf der Fahrt zu Tante Ruth, wo meine Mutter und ich bleiben sollten, bis wir eine eigene Wohnung finden würden, versicherte uns Sheryl, dass uns Arizona gefallen würde. »Wir leben im Paradies«, sagte Sheryl. »Wirklich! Steht auf allen Schildern.
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