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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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Liliputaner um Gulliver. Wir diskutierten, ob er wohl tot sei oder nicht. Schließlich wälzte er sich auf den Rücken und fing wie ein Irrer zu lachen an. »Safe«, sagte er.
    Alle Jungen lachten mit ihm, und ich am meisten, Ich war ein ernster Junge – meine Mutter war ernst, unsere Lage war ernst –, aber dieser Mann zu meinen Füßen war das Gegenteil von ernst und er war, wie ich wusste, aus dem Dickens gekommen. Ich freute mich schon darauf, bei ihm zu sein. Ich freute mich schon, so zu werden wie er.
    Stattdessen wurde ich noch ernster. Alles wurde ernster.
    Ich war davon ausgegangen, die sechste Klasse würde, wie alle Klassen davor, ein Kinderspiel werden, doch aus irgendeinem Grund verdoppelte sich die Arbeit und wurde bedeutend härter. Auch meine Schulkameraden wirkten mit einem Mal viel klüger als ich, so als wüssten sie genau, wie alles lief. Mein Freund Peter erzählte mir, wenn man sich für ein College bewerbe, müsse man eine Liste aller bisher gelesenen Bücher vorlegen. Auf seiner Liste, prahlte er, stünden bereits fünfzig Bücher. Ich sagte ihm, ich würde mich nicht mehr an alle Bücher erinnern, die ich gelesen hatte, und wurde panisch. In diesem Fall, meinte Peter, werde man mich wahrscheinlich nicht zulassen.
    »Und was ist mit einem Jurastudium?«, fragte ich.
    Langsam schüttelte er den Kopf von einer Seite zur anderen.
    In der sechsten Klasse mussten wir bei Mrs Williams in Naturwissenschaften einen Vertrag unterzeichnen, der uns verpflichtete, unser Bestes zu geben. Was Mrs Williams für ein geschicktes Motivationsmittel hielt, glich für mich einem Todesurteil. Ich untersuchte den Vertrag und wäre am liebsten schon Anwalt gewesen, um irgendein Hintertürchen zu finden. Jeden Morgen stieg ich mit dem Vertrag im Rucksack in den Schulbus, als wäre ich unterwegs ins Arbeitslager. Kurz nach meiner Haltestelle fuhr der Bus an einem Altersheim vorbei. Ich presste mein Gesicht an die Scheibe und beneidete die alten Leute, die in ihren Schaukelstühlen saßen und den ganzen Tag ungehindert fernsehen und lesen konnten. Als ich das meiner Mutter erzählte, sagte sie ganz leise: »Steig in den T-Bird.«
    Meine Mutter fuhr mit mir durch Manhasset und sagte, ich müsse aufhören, mir Sorgen zu machen. »Versuch einfach dein Bestes, Schatz«, sagte sie.
    »Genau das steht auch in Mrs Williams’ Vertrag«, jammerte ich. »Woher soll ich wissen, was mein Bestes ist?«
    »Dein Bestes ist, was du bequem schaffst, ohne dass du zusammenbrichst.«
    Aber sie verstand mich nicht. Bei meinem Schwarzweißbild von der Welt reichte es nicht, wenn ich mein Bestes gab. Ich musste perfekt sein. Um für meine Mutter zu sorgen und sie ans College zu schicken, musste ich sämtliche Fehler eliminieren. Durch Fehler war unsere Zwangslage überhaupt erst entstanden – Oma hatte Opa geheiratet, Opa hatte meiner Mutter das Studium verweigert, meine Mutter hatte meinen Vater geheiratet – und wir mussten weiter für sie zahlen. Ich musste diese Fehler korrigieren, indem ich neue vermied und perfekte Noten erzielte, dann ein perfektes College besuchte, danach Jura studieren und am Ende meinen unperfekten Vater verklagen konnte. Aber wie sollte ich perfekt sein, wenn die Schule immer schwerer wurde, und wenn ich nicht perfekt war, wären Mutter und Oma enttäuscht von mir und ich wäre nicht besser als mein Vater, und dann würde meine Mutter wieder singen und weinen und auf ihren Taschenrechner einhacken – solche Gedanken schwirrten mir auf dem Spielplatz durch den Kopf, wenn ich anderen Kindern beim Tetherball spielen zuschaute.
    Eines Abends setzte sich meine Mutter im Esszimmer zu mir, neben ihr saß Oma. »Mrs Williams hat mich heute bei der Arbeit angerufen«, sagte sie. »Mrs Williams meint, du sitzt in den Pausen auf dem Spielplatz und starrst ins Leere, und als sie wissen wollte, was du tust, hast du gesagt, du würdest dir – Sorgen machen?«
    Oma schnalzte abfällig mit der Zunge.
    »Pass auf«, sagte meine Mutter. »Wenn ich merke, dass ich mir Sorgen mache, sage ich mir: Ich mache mir keine Sorgen über etwas, das nicht passiert, und das beruhigt mich immer, denn das meiste, worüber wir uns Sorgen machen, passiert nie. Probier es doch einfach mal damit.«
    Genau wie Mrs Williams mit ihrem Vertrag, glaubte meine Mutter, ihre Bekräftigung würde mich motivieren. Stattdessen hypnotisierte sie mich. Ich wandelte sie in eine Beschwörungsformel um, in ein Mantra, das ich auf dem Spielplatz sang, bis ich

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