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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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›Willkommen in Paradise-Valley‹. Ist ein nobler Vorort von Scottsdale. So was wie das Manhasset von Arizona.«
    Ich spähte hinaus in die Dunkelheit, die mir doppelt so finster vorkam wie die Nacht in New York. Ich sah nur die bedrohlichen Umrisse der Berge, die noch einen Tick schwärzer waren als die Nacht. Ich hatte gelesen, dass es in Arizona Berge gab, aber etwas anderes erwartet, etwas in der Größenordnung der Berge wie in Heidi oder in The Sound of Music, saftig und grün, mit sonnengesprenkelten Wiesen, auf denen Frauen in Schürzen und engelhafte Kinder Narzissen pflückten. Diese Berge waren kahl, spitze Dreiecke, die unvermittelt aus der flachen Wüste aufragten wie die Pyramiden. Ich betrachtete den größten, der laut Sheryl Camelback hieß. »Warum?«, fragte ich. »Na, weil er aussieht wie ein Kamelrücken«, sagte sie, als wäre ich ein Trottel. Ich drehte mich um und sah mir den Berg nochmal an. Ich erkannte kein Kamel. Für mich sah er aus wie der auf dem Rücken liegende Ersatzläufer aus dem Dickens, die zwei Höcker waren seine Knie und der Bauch.
    Meine Mutter fand sofort eine Arbeit als Sekretärin im örtlichen Krankenhaus. Die Wohnungssuche gestaltete sich etwas schwieriger. Da in Arizona viele Senioren lebten, waren Kinder in den meisten Apartmentsiedlungen, besonders in den erschwinglichen, nicht gern gesehen. Schließlich log meine Mutter einen Vermieter an und sagte, sie sei geschieden und alleinstehend. Nach unserem Einzug erklärte sie ihm, ihr Ex-Mann hätte das Sorgerecht, sei aber gerade in einen anderen Bundesstaat versetzt worden und sie würde für mich sorgen, bis er alles geregelt hätte. Dem Vermieter gefiel das zwar nicht, aber er wollte sich den Ärger einer Räumungsklage ersparen.
    Von dem Geld, das uns der Verkauf der Wartezimmermöbel und des T-Bird brachte, erstanden wir auf Ratenzahlung zwei Betten, eine Kommode, einen Küchentisch und zwei dazu passende Stühle. Für das Wohnzimmer kauften wir in einem Drogeriemarkt zwei zusammenklappbare Strandstühle. Nachdem wir uns einen gammeligen VW Käfer Baujahr 1968 gekauft hatten, blieben uns noch 750 Dollar, die meine Mutter im Eisfach aufbewahrte.
    Nicht lange nach unserer Ankunft fuhren wir mit Tante Ruth und ihren Kindern nach Rawhide, einer nachgebauten Westernstadt mitten in der Wüste, mit Goldmine, Gefängnis und verkleideten Cowboys. Am Eingangstor hatte sich, in einem Kreis von authentischen Conestoga-Wagen, eine Gruppe riesiger Roboter-Cowboys um ein Lagerfeuer versammelt. Ihre leisen Stimmen knisterten aus Lautsprechern in den Kakteen. Sie machten sich Sorgen wegen der Apachen. Und Schlangen. Und des Wetters. Und wegen der unendlichen Weite, die jenseits des Rio Grande lag. »Wenn wir den Rio Grande nicht bis zum August überquert haben«, sagte der Chefroboter, »sind wir garantiert geliefert.« Die anderen nickten ernst. McGraw und ich nickten auch. Weit entfernt von zu Hause und umgeben von Wüste, schien uns der Unterschied zwischen einem Conestoga-Wagen und Tante Ruths Kombi nur unerheblich.
    Wir liefen durch die nachgestellte Westernstadt, über die einzige Hauptstraße, die am Saloon begann. Der Rauch vom Lagerfeuer der Cowboys folgte uns durch die Straße. Ich hatte mir immer eingebildet, der Holzrauch in Manhasset sei berauschend, doch das Holz in Arizona war noch wohlriechender, noch magischer, mit Aromen, die mir unbekannt waren und laut Sheryl Hickory, Salbei, Kiefer und Mesquite hießen. Auch die Sterne waren in der Wüste schöner. Näher. Jeder glich einer Stablampe, die mir jemand vors Gesicht hielt. Ich blickte hoch, füllte meine Lungen mit der klaren Wüstenluft und musste Sheryl Recht geben. Es war das Paradies. Die Berge und Kakteen und Erdkuckucke – alles, was ich anfangs als seltsam empfunden hatte, gab mir jetzt Hoffnung. Meine Mutter und ich hatten etwas Neues gebraucht, und neuer als dies hier ging es nicht. Ich spürte schon jetzt einen Unterschied. Mein Kopf war klarer, mein Herz leichter. Meine ständigen Sorgen wurden weniger. Und das Schönste war: Ich konnte den Unterschied auch bei meiner Mutter sehen. Seit Wochen hatte sie mich nicht mehr mit ihrer ausdruckslosen Miene bedacht, und sie schien doppelt so viel Energie zu besitzen.
    Kurz nach unserem Ausflug nach Rawhide rief meine Mutter Tante Ruth an, um zu fragen, ob McGraw mit mir spielen möchte. »Schon wieder keine Antwort«, sagte sie und legte den Hörer auf. »Ein Haus mit acht Personen, und keiner hebt

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