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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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ab.«
    Schließlich fuhren wir zu Tante Ruth und klopften an die Tür. Wir drückten unsere Gesichter an die Scheiben. Kein Lebenszeichen. Zurück in unserer Wohnung, rief meine Mutter in Manhasset an, eine beispiellose Verschwendung. Es könnte das erste Ferngespräch in der Geschichte unserer Familie gewesen sein. Meine Mutter redete kurz mit Oma und legte auf. Sie war kreidebleich. »Sie sind fort«, sagte sie.
    »Was?«
    »Tante Ruth ist mit ihren Kindern auf dem Rückweg nach Manhasset.«
    »Für immer?«
    »Ich glaube schon.«
    »Wann sind sie gefahren?«
    »Keine Ahnung.«
    »Aber warum denn?«
    Ausdruckslose Miene.
    Wir erfuhren es nie. Am wahrscheinlichsten war, dass Tante Ruth und Onkel Harry sich gestritten hatten, er wieder nach New York gezogen und sie gefolgt war. Aber sicher konnten wir nicht sein, denn für Erklärungen war Tante Ruth nicht der Typ.
    Ohne McGraw und die Cousinen wurde Arizona über Nacht vom Paradies zum Fegefeuer. Es wurde heiß, furchterregend heiß, dabei war es noch Monate bis zum Sommer hin. Der VW hatte keine Klimaanlage, und wenn meine Mutter und ich zum Laden fuhren, um kalte Getränke zu kaufen, waren wir umgeben von flirrender Hitze, und außer Steppenläufern und kleinen Wirbelstürmen bewegte sich nichts am verdorrten Horizont. Auf einem Foto aus dieser Zeit warte ich auf den Schulbus und sehe aus wie der erste Junge auf dem Mars.
    Um uns auf andere Gedanken zu bringen, machten wir bei Sonnenuntergang lange Spritztouren. Aber in Arizona gab es keine Häuser am Wasser, die uns ablenkten, keine Shelter Rocks. Nur flache Wüste und noch mehr flache Wüste. »Lass uns wieder nach Manhasset ziehen«, sagte ich.
    »Das geht nicht«, sagte sie. »Wir haben alles verkauft. Mein Job ist gekündigt. Wir sind jetzt hier.« Sie blickte um sich und schüttelte den Kopf. »Hier ist unser – Zuhause.«
    Eines Samstags half ich meiner Mutter beim Auspacken der letzten Schachteln mit unseren Habseligkeiten, die Oma geschickt hatte, und entdeckte ein sechzig Zentimeter langes blaues Gerät, das aussah wie ein Kolben mit einem Griff an jedem Ende. Laut Verpackung handelte es sich um eine »Biegehantel – zur Vergrößerung des Brustumfangs«. Ich probierte sie aus. »Was machst du da?«, fragte meine Mutter, als sie mich, ohne Hemd, vor dem Spiegel das Ding quetschen sah.
    »Meinen Brustumfang vergrößern.«
    »Das ist für Frauen«, sagte sie. »Davon kriegst du nicht die Art von Vergrößerung, die du dir wünschst. Gib mal her.« Sie nahm das Gerät und runzelte die Stirn. Ihrem Gesicht konnte ich entnehmen, dass ich ihr manchmal ein ebenso großes Rätsel war wie sie mir.
    »Du langweilst dich, stimmt’s?«, sagte sie.
    Ich blickte zur Seite.
    »Komm, wir fahren in die Westernstadt.«
    Am Eingang von Rawhide begrüßten wir die nachgemachten Roboter-Cowboys. »Wenn wir den Rio Grande nicht bis August überquert haben …« Wir gingen in den Saloon, wo meine Mutter zwei Kräuterlimonaden und eine Tüte Popcorn kaufte. Der Bier- und Zigarrengeruch ließ mich ans Dickens denken. Ich fragte mich, ob es wohl noch mehr Tortenschlachten gegeben hatte. Vor dem Saloon setzten wir uns im Schatten auf eine Bank und reichten die Popcorntüte hin und her. Plötzlich brach vor uns mitten auf der Straße eine Schießerei aus. Vier Männer erklärten dem Sheriff, sie würden jetzt die Stadt übernehmen. Sie zogen ihre Waffen. Der Sheriff zog seine. Päng. Der Sheriff fiel um. »Eindeutig in der Unterzahl«, sagte meine Mutter. »Auch waffenmäßig.«
    Als der tote Sheriff aufstand und sich abstaubte, wandte sich meine Mutter zu mir. Sie habe eine Idee, sagte sie. Ich sollte den Sommer über wieder nach Manhasset. »Unsere einzige Möglichkeit«, sagte sie. »Ich kann dich in den Ferien nicht den ganzen Tag allein in der Wohnung lassen. Ein paar Stunden nach der Schule ist weiter nicht schlimm, aber drei Monate lang, von morgens bis abends, das geht nicht. Und wenn du in Manhasset bist, kann ich Überstunden machen, eine zweite Arbeit annehmen und vielleicht für Möbel sparen.«
    »Wie willst du ohne mich zurechtkommen?«, fragte ich.
    Sie lachte, bis sie merkte, wie ernst es mir war.
    »Ich mach das schon«, sagte sie. »Die Zeit vergeht bestimmt wie im Flug, weil du Spaß haben wirst, und ich bin mir sicher, dort geht es dir gut und du bist mit Menschen zusammen, die du magst.«
    »Und wer soll das Flugticket bezahlen?«, fragte ich.
    »Vorläufig die Kreditkarte, den Rest überlege ich mir

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