Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
Vom Netzwerk:
genieren, wenn Männer aus Vietnam ohne Beine zurückkommen?«
    »Kümmere dich um deine Angelegenheiten«, sagte er zu ihr, obwohl ihm ihre Art gefiel. Knallhart. Eine Gangsterbraut. Eine Frau wie bei Raymond Chandler. Sie kamen ins Gespräch und entdeckten einige Gemeinsamkeiten, allen voran eine quasi-religiöse Achtung vor Bars. Außerdem war Pat Englischlehrerin, und Onkel Charlie liebte Wörter, also unterhielten sie sich über Bücher und Schriftsteller. Ein paar Tage später schickte sie ihm ein Telegramm. DU GEHST MIR NICHT AUS DEM KOPF-MUSS DICH SEHEN. Sie bestellte ihn in eine Raststätte außerhalb der Stadt. »Ich war zu früh dort«, sagte er. »Saß an der Bar. Trank einen Cocktail. Überlegte, ob ich gehen sollte. Stand auf und wollte gehen.«
    Er spielte es nach. »Ich ging zur Tür«, sagte er, taumelte zum Herd und riss seinen Stuhl um. »Kannst du dir vorstellen, dass alles anders gekommen wäre? JR, verdammt noch mal. Verstehst du? Alles wäre anders gekommen-wenn ich gegangen wäre. Kannst du mir folgen? Dinge können sich von einer Sekunde zur nächsten ändern. Kapiert?«
    »Kapiert«, sagte ich und hob seinen Stuhl auf.
    »Sie kommt durch die Tür gerauscht. Selbstbewusst. Hinreißend. Spitze. Nein, Scheiße, absolute Spitze. Sommerkleid. Lippenstift. Eine Schönheit.« Er setzte sich wieder. Er drückte die Zigarette aus, die bereits aus war. Er schloss die Augen und lachte vor sich hin. Er war wieder dort, in der Raststätte bei Pat. Ich kam mir wie ein Eindringling vor. »Gleich hinter ihr«, flüsterte er, »kommt ihr Mann. Sie ist – verheiratet. Der Mann ist ihr seit Wochen gefolgt. Seit Wochen, JR. Er denkt, sie betrügt ihn. Was nicht stimmt. Aber sie ist kurz davor. Mit mir.«
    »Hast du ihn gekannt?«
    »Wen?«
    »Den Mann.«
    »JR, du hörst nicht richtig zu. Er war der gefürchtetste Dreckskerl, der je auf dieser Erde gewandelt ist. Er ist der Grund, warum du am Jones Beach keinen Alkohol mehr trinken darfst. Aber das ist eine andere Geschichte. Der Mann setzt sich neben Pat und sagt zum Barkeeper: ›Gib ihnen einen Drink auf meine Kosten‹, Dann zu mir: ›Chas, ein anderer wäre jetzt schon tot.‹« Onkel Charlie machte eine Pause. »Sechs Monate später war Pat geschieden. Seitdem sind sie und ich ein Paar. Entschuldige. Schon wieder falsch. Waren sie und ich ein Paar. Bis …«
    Die Uhr über dem Herd klang, als würde jemand mit einem Löffel auf einen Topf schlagen. Onkel Charlie zündete sich wieder eine Zigarette an. Er rauchte mit geschlossenen Augen, und wir sagten beide nichts, bis ich die Stille nicht mehr aushielt. »Es war toll im Shea«, sagte ich.
    Er öffnete die Augen und sah mich an, hatte keine Ahnung, wovon ich redete.
    »Wir konnten sie nicht finden«, sagte ich. »Weißt du noch?«
    »Ja, klar.« Er seufzte. Zwei lange Rauchschwaden schossen ihm aus der Nase; ich fühlte mich an einen Drachen erinnert. »Jetzt werden wir sie nie mehr finden.«
    Ich hatte es geschafft, genau das Falsche zu sagen.
    »Sie hat das Publicans geliebt«, sagte er. »Sie hat so gern gelacht – unheimlich gern – und immer wenn ich dachte, sie könnte nicht mehr lachen, kam sie ins Publicans und lachte doppelt so viel. Und sie hat Steve über alles geliebt.«
    »Was hat Steve …«
    »Zeit fürs Bett«, sagte er, stand auf, und der Stuhl kippte wiederum.
    Ich hob ihn wieder auf.
    »Wie alt bist du?«, fragte er.
    »Fünfzehn. Ich werde …«
    »Ein tolles Alter. Himmel, was für ein tolles Alter. Bleib da stehen. Werd nicht älter.«
    Ich legte mir seinen Arm um den Hals und führte ihn durch den Flur. An seiner Zimmertür blieb ich stehen und sah zu, wie er sich voll bekleidet ins Bett sinken ließ. Er lag auf dem Rücken und starrte an die Decke. »JR, JR, JR«, sagte er. Immer wieder sagte er meinen Namen, als wäre die Luft voller JRs und er würde sie zählen.
    »Gute Nacht, Onkel Charlie.« Als ich die Tür schließen wollte, musste er noch etwas loswerden.
    »Wer hat auf JR geschossen?«, fragte er. »Muss der Schwager gewesen sein. Keiner hat J.R. mehr gehasst als Cliff.«
     
     
     
17 | SHERYL
     
    »Jemand muss einen Mann aus dir machen«, sagte Sheryl verdrossen. »Ich schätze, es bleibt an mir hängen.«
    Es war 1981, der Sommer vor meinem letzten Highschooljahr, und wir saßen im Zug nach Manhattan, wo Sheryl mir in der Anwaltskanzlei, in der sie als Sekretärin arbeitete, einen Job in der Registratur besorgt hatte. Ich sah sie verwirrt an. Ich schickte meiner

Weitere Kostenlose Bücher