Tender Bar
Mutter Geld, schürte ihre Hoffnung, bald Anwalt zu sein – was konnte noch männlicher sein? Außerdem definierte ich mich mit meinen sechzehn Jahren über den Umgang, den ich pflegte, und von Manhasset nach Manhattan zu pendeln, hieß für mich, dass ich mit Aberhunderten von Männern Umgang pflegte. Notgedrungen und folglich, wie es in der Kanzlei hieß, war ich ein Mann.
Wohl kaum, sagte Sheryl. In ihren Augen war Männlichkeit kein Gefühl, sondern eine Frage des Auftretens. Sheryl, die gerade ihren Abschluss in Innenarchitektur an einem kleinen Junior College gemacht hatte, war völlig auf Oberflächlichkeiten fixiert. Wie man sich kleidete, was man trug und rauchte und trank – solche Äußerlichkeiten legten das Ich einer Person fest. Es spielte keine Rolle, dass ich mich als Mann fühlte, weil ich mich weder wie einer verhielt noch wie einer aussah. »Und genau da komme ich ins Spiel«, sagte Sheryl.
Sheryl war kurz vor meiner Ankunft in diesem Sommer bei Opa eingezogen. (Sie sparte für eine eigene Wohnung, wollte aber in der Zwischenzeit nicht bei ihrer nomadischen Mutter bleiben.) Da ich mit Sheryl unter einem Dach wohnte, täglich mit ihr im Zug fuhr und mit ihr arbeitete, erhielt ich rund um die Uhr Männlichkeitsunterricht. Und wenn sie nicht über Männlichkeit redete, zog sie, gewissermaßen als Prämie, haufenweise Männer an, die im Zug unbedingt bei uns sitzen wollten. Mit ihren dunkelblonden Haaren und der kecken, schmalen Nase sah sie aus wie die junge Ingrid Bergman.
Ein anderer hätte sich vielleicht gegen Sheryls endlose Ermahnungen gewehrt. Steh gerade. Steck dein Hemd richtig in die Hose. Was könnten wir anstellen, damit du ordentliche Muskeln kriegst? Aber ich tat alles, was sie sagte, ohne Frage, denn Sheryl schien zu wissen, wie die Welt funktioniert. Sie war beispielsweise der einzige Mensch, der merkte, wenn die dritte Schiene drei Sekunden vor Ankunft des Zuges knackte, und sie war die Erste, die mich ermahnte, diese dritte Schiene niemals anzufassen. »Sie steht wie ich«, sagte sie, »immer unter Strom!« Nur Sheryl konnte mir erklären, wie man eine Zeitung in einem vollen Zug richtig las, indem man sie einmal der Länge nach faltete und dann nacheinander eine halbe Seite zurückschlug, um den rechten und linken Sitznachbarn nicht zu stören. Darüber hinaus erklärte Sheryl, sei die Zeitung, die ich läse, ein Aushängeschild für meinen gesellschaftlichen Status, Einkommen, Abstammung, IQ. Arbeiter lasen die Daily News. Hausfrauen Newsday. Durchgeknallte die Post.
»Opa liest die Post«, protestierte ich.
Sie blinzelte mir zu, als wollte sie sagen: Noch irgendwelche dummen Fragen?
Wir standen auf dem vollen Bahnsteig, als Sheryl mich auf einen ungefähr vier Meter entfernten Mann hinwies. »Siehst du den Typen?«, sagte sie.
An einem Laternenpfahl lehnte ein Geschäftsmann in einem anthrazitgrauen Anzug, der aussah wie Gary Grants attraktiverer älterer Bruder. Ich hatte ihn schon oft ins Publicans gehen sehen und immer seine Höflichkeit bewundert. »Schon bemerkt, was er liest?«
Die New York Times, der Länge nach gefaltet.
»Nur Aristokraten und hohe Tiere lesen die Times«, erklärte sie. »Ganz gleich, wie langweilig sie ist.«
Ich erzählte Sheryl nicht, wie gern ich die Times las und dass eines der schönsten Dinge an der Arbeit in der Kanzlei die halbstündige Zugfahrt war, in der ich sie lesen konnte. Für mich war die Times ein Wunder, ein Mosaik aus minutiösen Biografien, ein tägliches Meisterwerk. Da ich noch nichts gesehen hatte und niemanden kannte, der weitgereist war, hungerte ich nach Wissenswertem aus der Welt, und die Times schien, genau wie Yale, auf meine Art von Unwissenheit zugeschnitten zu sein. Zudem gefiel mir, dass die Times den Eindruck vermittelte, das Leben sei eindämmbar. Sie befriedigte meinen Ordnungsfimmel, meinen Wunsch, die Welt in schwarz und weiß einzuteilen. Sie bannte den ganzen Wahnsinn auf siebzig Seiten mit jeweils sechs schmalen Kolumnen. Ich setzte alles daran, meine Liebe zur Times zu verbergen, denn Sheryl war überzeugt, ein echter Mann würde die Times vielleicht lesen, aber nur ein hoffnungsloser Spinner auch noch Spaß daran finden. Doch Sheryl hatte ein scharfes Auge. Sie sah, wie sehr ich mich auf die Times konzentrierte und nannte mich JR Schnüffleringer.
Die beiden kritischen Tests für das Stehvermögen eines Mannes waren Sheryl zufolge Frauen und Alkohol. Wie man auf beides reagierte, wie man beides
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