Tentakel-Trilogie 3: Tentakelsturm
Ventil für die aufgestauten Aggressionen gedient, aber die Wirkung verpuffte bereits. Die Menge suchte nach einem neuen Opfer. Als die Leute merkten, dass sie vom Plündern der wirklich wichtigen Waren durch die Sicherheitsmaßnahmen abgehalten wurden, richtete sich ihre Wut gegen Sachen – und zunehmend auch gegeneinander. Als einige junge Frauen die alten Damen ihrer Ledertaschen beraubten und aus dem Kaufhaus hinausprügelten, kam der Kaufhauschef, bleich im Gesicht, in die Sicherheitszentrale.
»Die Polizei meint, sie schicken eine Einsatzgruppe, sobald sie die Kapazitäten freihaben.«
»Das wird zu spät sein. Da unten gibt es jetzt ein Gemetzel, wenn das so weitergeht. Sehen Sie dort: Einige unserer verehrten Kunden haben ihre staatlicherseits zugeteilte Artillerie mitgebracht.«
Drei Jugendliche holten alte Sturmgewehre unter ihren langen Mänteln hervor und hielten sich scheinbar für die Reinkarnation unzähliger cooler Leinwandhelden. Sie begannen allerdings, bemerkenswert uncool auf Schaufensterpuppen zu feuern. Als der erste Querschläger einen der unbewaffneten Plünderer traf und dieser seinen Schädel samt Inhalt über einem Grabbeltisch mit Liebesromanen versprühte, brach endgültig die Hölle los.
»Wir können da nicht raus!«, sagte Sebastian sich selbst. »Die richten uns hin.«
Leon sagte nichts und griff an Sebastians Schulter vorbei zu den Drehschaltern, mit denen man die Kameras manipulieren konnte.
»Das ist nicht unser Problem«, sagte er dann mit belegter Stimme. »Die etwas Intelligenteren sind nämlich auf dem Weg zu uns.«
Leon schaltete um. Eine Gruppe gut organisiert wirkender Plünderer hatte das Personaltreppenhaus entdeckt und verständigte sich über das weitere Vorgehen. Sie trugen keine Waffen offen zur Schau, aber es wölbte sich verdächtig unter den Bomberjacken. Im Gegensatz zu den Terminatoren mit den langen Mänteln, die es jetzt lustig fanden, gezielt auf schreiend davonrennende Kunden zu feuern, hatte diese Gang sich nur mit Handfeuerwaffen eingedeckt und offenbar die Absicht, ihr Arsenal gezielt und zweckbestimmt einzusetzen.
Sebastian sah sich um.
»Was haben wir, meine Herren?«
»Nur das Übliche aus der Notfallausrüstung«, erwiderte Dan. Auch Leon wünschte sich, dass er seine Militärsachen jetzt dabei hätte. In den drei schwarzen Kisten mit dem Logo ihrer Sicherheitsfirma war das Material für den »worst case« eingelagert. Leider wurde die Realität durch die Phantasie der Planer übertroffen. Immerhin fanden sich für jeden eine Standard-Schussweste und insgesamt drei Revolver mit jeweils zwölf Schuss Munition.
»Wer kann's am besten?«, fragte Sebastian herum und steckte einen der Revolver selbst ein. Leon und Dan hielten ihre Hände hin und die anderen Männer sahen eher erleichtert als enttäuscht aus. Die Kisten enthielten noch Betäubungspistolen, die winzige Flechettes mit Schlafmittel verschossen. Jeder der Männer konnte sich ein Halfter umbinden. Mit etwas Glück würde es reichen, diese Waffen einzusetzen.
»Zielt auf die Arme oder das Gesicht«, riet Sebastian nun. Leon blickte auf die Monitore. Die Gang hatte die Bomberjacken geöffnet. Schutzwesten und Achselhalfter. Leon verzog das Gesicht. Eine Ladung Betäubungsflechettes ins Gesicht und man geriet zumindest in Gefahr, seine Augen zu verlieren. Das würde ekelhaft werden.
Er fühlte sich sehr ruhig.
»Aha, sie kommen die Treppe hoch!«, bemerkte Sebastian jetzt. »Alle Mann in Position, wir bekommen Besuch.«
Leon warf einen letzten Blick auf die Bildschirme, dann wandte er sich wie seine Kollegen davon ab. Einige der Kaufhausangestellten hatten sich furchtsam um einen Kaffeeautomaten versammelt.
»Es ist besser, wenn Sie das Haus jetzt verlassen. Der Personaleingang ist möglicherweise noch unbeobachtet«, wies Leon an. »Einer unserer Männer wird Sie nach unten begleiten. Suchen Sie die nächste Polizeistation auf und halten Sie sich vom Mob fern. Nehmen Sie Ihre Namensschilder ab, damit man Sie nicht als Angestellte erkennt, sonst entlädt sich die Wut noch auf Sie.«
Die Angestellten wechselten schnelle Blicke, und als einer der Sicherheitsleute sich auffordernd vor sie stellte, machten sie sich sofort auf den Weg. Der Kaufhauschef blieb zurück, knetete seine Hände und wollte augenscheinlich ebenfalls gerne verschwinden. Wahrscheinlich hielt ihn so etwas wie die seemännische »Der Kapitän geht als Letzter von Bord«-Mentalität davon ab. Leon beschloss, es ihm
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