Terra Madre
Die Spekulationen auf Häuser, Erdöl und Lebensmittel sind endgültig gescheitert. Wir sprechen nun von einer Krise des Systems. Die gesamte Wirtschaftsordnung erlebt gerade eine historische Niederlage. Und wer glaubt, es handle sich um einen vorübergehenden Zustand, der irrt: Die Krise ist tiefgreifend und wird lange dauern.
Viele von uns befinden sich gegenwärtig in einer besonderen Gefühlslage. Zunächst ist da eine große Sorge um unsere Zukunft, unser alltägliches Leben, die Arbeit, die Wohnung und die Würde der ärmeren Völker. Aber aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, gibt es auch ein zartes Gefühl von Freiheit. Es wurde Zeit, dass diese künstlich hochgeputschte Konstruktion in sich zusammenfiel. Es wurde Zeit, dass diese Schande – Leute, die sich auf schamlose Weise bereichern, während sie die einfache Arbeit normaler Menschen gering achten – aus dem Weg geräumt wurde. Es wurde Zeit, dass diese Spekulationsblase ein für alle Mal platzte.
Aber sehen wir uns vor, wägen wir in Ruhe ab und untersuchen die Situation genau, denn viele der jetzt gemachten Analysen liegen völlig falsch. Jetzt zu glauben, dass die Marktwirtschaft am Ende sei, ist meines Erachtens ein Irrtum. Wir hoffen im Gegenteil, dass die Marktwirtschaft auf ehrbare Weise wieder auflebt. Sie sollte sich wieder der Wirklichkeit annähern und sich enger an die ländliche Wirtschaft anbinden. Die gegenwärtige Situation wurde uns nicht nur von ein paar Verbrechern eingebrockt, nein, der Wundbrand dieses Übels ist überallhin eingedrungen – in die Politik, in das Leben und in die Seele vieler Menschen. Also müssen wir gerade jetzt besonders intensiv nachdenken und abwägen, um die Dinge bis ins Letzte zu verstehen. Wir können uns nicht wie Gehörlose verhalten, die – wie eine Redensart sagt – »zweimal lachen«: einmal, wenn sie all die anderen lachen sehen, das zweite Mal, wenn ihnen jemand erklärt hat, warum gelacht wurde. Wir müssen, bevor wir lachen, bevor wir Position beziehen, erst genau verstehen, wie die Welt und ihre Wirtschaft ticken.
Ich bin sicher, dass diese Krise dazu führen wird, dass man der ländlichen Wirtschaft mit viel mehr Respekt begegnet. Die Aufmerksamkeit für die Landwirtschaft, für die reale, die wahre Wirtschaft, die mit den Füßen fest auf dem Boden steht und schwielige Hände hat, für das, was ihr alle hier repräsentiert, wird viel größer sein. Wir werden die Arbeit mit den Händen, die mit ihr einhergehende Weisheit, das Handwerk und die kleinen Manufakturbetriebe wieder wertschätzen. Wir werden denjenigen, die die Erde bearbeiten, wieder mehr Aufmerksamkeit schenken und uns vermehrt für die neuen Technologien interessieren, die der Nachhaltigkeit, der Umwelt und der Lebensqualität dienen.
Unsere Versammlung vereint all diese Themenkreise, weil es uns, ausgehend von der Nahrung, gelingt, Landwirtschaft, klimatischen Wandel, Nachhaltigkeit und neue, saubere Energie zusammenzubringen. Jahrelang hieß es, die Ökonomie der Natur und der Selbstversorgung sei eine Randökonomie, jahrelang wurden diese Wirtschaftsformen verspottet. Aber sie werden es sein, die die Welt vor der verrückten Marktwirtschaft, vor dem verbrecherischen Finanzwesen retten. Dessen könnt ihr gewiss sein.
Man kann nur hoffen, dass Politik und Wirtschaft sich in naher Zukunft der lebenswichtigen Beziehungen zwischen Lebensmitteln, Landwirtschaft, Klimawandel, Schutz der Gesundheit, der Landschaft und der Ökosysteme bewusst werden. All diese Probleme sind eng miteinander verknüpft. Politik und Wirtschaft werden erkennen, dass die intensive Landwirtschaft ein Irrweg war. Sie hat Millionen Frauen, die Basis der Subsistenzwirtschaft, von ihrem Land vertrieben. Die Erde ist vor allem deshalb Mutter, weil sie von den Händen der Frauen bearbeitet wird. Die Frauen aus dem Produktionsprozess zu verdrängen, ist ein Verbrechen.
Bei der Lösung unserer Aufgabe werden uns auch die Verbraucher unterstützen. Viele machen sich wegen der Konsumkrise Sorgen, aber ich denke, dass sie sich auf die großen Entscheidungen vorbereiten. Sie werden lokal erzeugte, gesunde, frische und saisonale Lebensmittel fordern und so zu euren Koproduzenten werden. Dies wird ein wichtiger, großartiger Prozess werden. Bereitet euch darauf vor, denn er wird sich positiv auf eure Produktion auswirken. Wir müssen uns nur vorsehen, dass niemand sich eurer Arbeit bemächtigt, um hochwertige Lebensmittel zu einem Luxusgut zu machen. Qualität
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