Terra Madre
mehr das Anwachsen des Netzwerks von Terra Madre. Vielleicht wäre es richtiger, von »den Netzwerken von Terra Madre« zu sprechen, denn bei unserem zweiten Treffen kamen neben den Bauern, Fischern und Nomaden auch die Köche und Köchinnen der Welt sowie die Universitäten hinzu. Dieses Jahr nun schließen sich die Produzenten von Naturfasern und die Musiker an – auch sie sind alle Bauern. Am Beispiel der Musiker, die uns hier mit ihren Klängen erfreuen, wird klar, dass die Landwirtschaft nicht einfach ein Wirtschaftssektor ist wie etwa die Eisenindustrie, sondern etwas viel Komplexeres. Sie entstand aus einer ganzheitlichen Weltsicht, in der Lebensmittel als heilig angesehen werden, und bezieht die Achtung vor der Umwelt, das gesellschaftliche Zusammenleben und alle Arten kultureller Ausdrucksformen mit ein.
In diesem Jahr sitzen außerdem mehr als 3.000 junge Leute – Studenten, Bauern und Köche – unter uns, die für unsere Zukunft stehen. Sie sind die Hoffnungsträger von Terra Madre, denn sie betätigen sich mit Leidenschaft innerhalb der landwirtschaftlichen Bündnisse.
In den vergangenen Jahren haben wir etwas erkannt: Der Samen, den wir in die Welt gestreut haben, gedeiht und bringt Früchte hervor. Der Baum wächst: 153 beteiligte Länder der Erde, Tausende von Schulgärten und im Entstehen begriffene Bauernmärkte, die neue Allianz mit den Verbrauchern, die wir ganz klar als Koproduzenten bezeichnen möchten; dazu die vielen Terra-Madre-Treffen, die in den letzten beiden Jahren in euren Gebieten stattgefunden haben, in Brasilien, in Irland, in Holland. In mindestens 30 Ländern sind neue Bündnisse von Terra Madre entstanden. Das Netzwerk, die Netzwerke, werden immer größer und stärker.
Wir müssen uns allerdings bewusst sein, dass das, was bisher geschah und was in diesem Jahr 2008 geschieht, den Lauf der Geschichte tiefgreifend verändern wird. Nur wenige unter uns konnten sich 2004 eine derart ungestüme Entwicklung vorstellen: die Erschütterung, die sich über die ganze Welt ausbreitet, die Wirtschaftskrise, die die ganze Gesellschaft, das alltägliche Leben der Menschen und die Politik in die Zange nimmt. Ich glaube, dass wir uns an dieses Jahr 2008 noch lange erinnern werden, in erster Linie deshalb, weil sich in der ersten Jahreshälfte gezeigt hat, dass der Multilateralismus nicht funktioniert. Die Vollversammlung der Welternährungsorganisation FAO hat zur Kenntnis genommen, dass das Ziel, die Zahl der unterernährten und hungernden Menschen dieser Welt zu halbieren, nicht erreichbar war und sein wird. Ganz im Gegenteil: Die Zahl der Hungernden und Unterernährten wird bald auf eine Milliarde angewachsen sein (also jeder siebte auf dieser Welt). Das ist eine epochale Niederlage, und nur, weil alle reichen Länder gemeinsam nicht in der Lage waren, einen jährlichen Beitrag von 30 Milliarden Dollar für diese edle Sache aufzubringen! Aber nun haben sie innerhalb von 15 Tagen 2.000 Milliarden Dollar zusammengebracht, um die angeschlagenen Banken zu retten, die sich durch ein verbrecherisches Finanzgebaren in diese Notlage gebracht haben! Das muss man nicht einfach nur anprangern, hier muss man sich ehrlich empören.
So wie der FAO-Gipfel scheiterte, so scheiterte auch der Gipfel der Welthandelsorganisation WTO. Und, sieh an, die meisten Streitigkeiten betrafen die Lebensmittelzölle. Die Mächtigen können sich beim Lebensmittelproblem nicht einigen, versammeln sich jedoch in aller Eile, um die kranke Wirtschaft zu retten, während sie im Bereich der Ernährung nie irgendetwas Brauchbares zustande bringen.
Ich halte die von vielen als »kreativ« bezeichnete Finanzwelt tatsächlich für verbrecherisch. Mitte 2008, nachdem sie bis dahin auf die Wohnungen der armen Leute sowie auf Energie und Erdöl spekuliert hatte, richtete sie ihr Augenmerk auf die Nahrungsmittel. Innerhalb kurzer Zeit haben sich die Reis-, Getreide- und Maispreise verfünffacht, mit dramatischen Auswirkungen auf der ganzen Welt. Während wir Italiener 15 Prozent unseres Einkommens für Essen ausgeben, sind es in vielen Ländern der Erde 50, 60, manchmal sogar 80 Prozent des Gesamteinkommens, die für Nahrung aufgewendet werden müssen.
In bestimmten Ländern kann eine Preiserhöhung verheerende Folgen haben. So stieg etwa die Zahl der Unterernährten auf der Welt innerhalb eines Jahres um 100 Millionen, und in 33 Ländern brachen Aufstände für das Recht auf Nahrung aus. Jetzt ist allerdings die Blase geplatzt.
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