Terra Mater
Augen, den Rücken an die Wand gelehnt, auf ihrem Bett – abwesend, undurchdringlich, rätselhaft. Er aß und trank nichts von den Speisen und Getränken, die sie ihm heimlich aus dem Refektorium mitgebracht hatte. Anfangs hatte sie geglaubt, er sei verletzt, wie manchmal die Blumenvögel, die sich ihre transparenten Flügel an Dornen aufrissen. Doch sie hatte kein Blut an seiner Kleidung gesehen noch eine andere Wunde an ihm entdecken können.
Eine unendliche Traurigkeit spiegelte sich auf seinen eingefallenen Gesichtszügen wider. Er war noch sehr jung, ein schöner Fremder von edler Gestalt, im Gegensatz zu den plumpen Ephreniern – und doch schien er viele tausend Jahre alt zu sein. Auf Fragen antwortete er nicht. Es schien, als habe er ihre Stimme nicht gehört, als existiere sie überhaupt nicht.
Oniki hatte zwei Decken auf den Fußboden gelegt und versucht, sich etwas auszuruhen. Doch ihre eigene Kühnheit hatte sie so aufgewühlt, dass sie keinen Schlaf fand.
Immerzu stellte sie sich dieselben Fragen: Welcher himmlische Wind hat diesen Mann in den Klostergarten getragen? Warum ist er so traurig? Welche Erlebnisse haben ihn in diesen Zustand versetzt? Sie fand keine plausiblen Erklärungen und ahnte, dass ihm etwas Schreckliches widerfahren sein musste, das außerhalb ihres Vorstellungsvermögens
lag. Also bemühte sie sich, seinen meditativen Zustand zu akzeptieren.
Wenn die Glocke sie zur Arbeit rief, wartete sie, bis sich ihre Schwestern bereits im Arkadenhof versammelt hatten. Dann ging sie zu ihnen, nicht jedoch, ohne zuvor ihre Zellentür verschlossen zu haben.
Onikis Arme und Beine fingen jetzt so stark zu zittern an, dass sie sich an den scharfen Ausbuchtungen des Korallenbaums ernsthaft verletzte. Ihr langes, schwarzes, zu einem Knoten gebundenes Haar löste sich und fiel ihr über Brust und Rücken. Der Rucksack mit den Abfällen schien viele Zentner zu wiegen. Sie fürchtete, jeden Moment das weit aufgerissene Maul der Schlange vor sich zu sehen und von ihr verschlungen zu werden. Sie verlor die Kontrolle über ihren Körper.
Der Thuta-Orden hatte oft seinen Tribut an die Korallenschlangen entrichten müssen. Auch der Name Oniki Kay, zweite Tochter von Dame Jophi Kay und Sire Arten Wahrt, würde auf der langen Liste der Vermissten stehen. Doch im Moment schmerzte sie nicht die Aussicht, im Bauch eines Reptils zu enden, sondern der Gedanke, diesen mysteriösen jungen Mann nicht wiederzusehen.
Ein Stück Koralle brach unter ihrem Fuß ab, und sie stieß einen verzweifelten Schrei aus. Zusätzlich durch ihre schwere Last aus dem Gleichgewicht gebracht, gelang es ihr nicht, einen anderen Tritt zu finden. Ihr Bein hing im Leeren. Sie warf einen schnellen Blick nach unten und stellte erstaunt fest, dass die Schlange verschwunden war. Der Weg war frei.
So konnte sie die letzten hundert Meter bis zur Verbindungs-Plattform – einer kreisrunden, im Durchmesser zwei Meter großen Scheibe – hinabsteigen.
»Du meine Güte! Was hast du uns Angst gemacht!«, rief Alaki, die Leiterin der Gruppe.
Onikis fliegender Diskus hielt neben dem Quai des Hauptturms. Ihre Mitschwestern trugen jetzt wie sie das weiße schlichte Ordensgewand der Thutalinen und warteten bereits seit einer halben Stunde, währenddessen sie das Schlimmste befürchtet hatten. Oniki stellte den Generator ab, sprang auf den Quai, warf die Abfälle in den danebenhängenden Kübel und ging zu ihren Gefährtinnen.
»Eine Schlange hat mir den Weg blockiert!«, entschuldigte sich Oniki mit einem Lächeln.
»So lange?«, fragte Alaki und runzelte die Stirn. »Das tun sie doch sonst nicht …«
Oniki zuckte mit den Schultern. Vor lauter Schweiß klebte ihr das Kleid am Körper. Es fühlte sich an, als bade sie in einer klebrigen Masse.
»Wir müssen die Matrionen darüber informieren«, sagte Alaki. »Vielleicht ändern die Schlangen ihr Verhalten. Doch jetzt müssen wir gehen. Wir haben uns bereits verspätet.«
Die jungen Frauen betraten den Lift, der direkt in den Korallenbaum eingebaut war, dessen Stamm viel dicker als die der Großen Orgeln war. Während der etwa zehnminütigen Fahrt schwiegen die Thutalinen, als wäre es ihnen zuwider, die in der Höhe erfahrene Stille und die ihnen vom Wind und Licht anvertrauten Geheimnisse zu verraten.
Der Weg über die Steinbrücke vom Fuß des Korallenbaums zum Hafen gehörte zum Schönsten des Tages. Denn zum einen konnten dann die in der Abgeschiedenheit lebenden jungen Frauen die
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