Terra Mater
der Matrionen aufgenommen würde. Doch bereits jetzt sehnte sie sich nach den Korallen. Sie glich einem Schmetterling, der bald flugunfähig sein würde, ein Wurm, zum Kriechen in dem ewigen Halbdunkel des Klosters verdammt.
Abwesend ruhte ihr Blick auf den Aquakugeln der Fischer, die wie große Meeresspinnen von Atoll zu Atoll sprangen. Dazwischen beherrschten hohe Säulen das Bild, rostbraune Gebilde, die eine Art Wald bildeten, um das Zusammenbrechen der Fundamente der Orgeln zu verhindern, indem sie die Zwischenräume der einzelnen Korallenbäume mit synthetischem Moos füllten. Nur die Zerstörung einer dieser Pfeiler hätte eine ökologische Katastrophe ausgelöst. Deshalb war die Arbeit der Gilde der Pylonen für den Bestand Ephrens ebenso wichtig wie die Arbeit der Thutalinen.
»Überlege gut, was du tust«, fuhr Alaki fort. »Du musst dich wieder fangen, ehe es zu spät ist.«
Oniki nickte kurz und kehrte zu ihren Mitschwestern zurück, um den fragenden Blicken der Älteren zu entgehen.
Mit klopfendem Herzen betrat Oniki ihre Zelle.
Sie warf einen Blick auf das Bett und erstarrte. Ihre Zelle war leer. Ihr schöner Prinz war verschwunden. Nur die zerwühlte Decke bewies, dass er wirklich dagewesen war.
Sie lehnte sich gegen die Wand und ließ sich auf den Boden gleiten. Mit leerem Blick, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen, wurde sie von ihren Gefühlen überwältigt – Erschrecken, Enttäuschung und Niedergeschlagenheit. Wahrscheinlich hatte sie ihre Zelle nicht sorgfältig genug abgeschlossen, und die Matrionen hatten ihren heimlichen Gast entdeckt. Außer einem winzigen Fenster und der Tür gab es keinen Zugang zu ihrer Unterkunft. Deshalb musste ihm jemand die Tür geöffnet haben. Und sie fragte sich zum tausendsten Mal, warum sie diesen bewusstlosen jungen Mann in ihre Zelle getragen hatte, anstatt seine Anwesenheit den Matrionen zu melden.
Vor drei Tagen ging Oniki wie jeden Tag nach dem Abendessen im Refektorium im Klostergarten spazieren. Sie liebte diese magische Stunde, wo das verblassende Gestirn Xati Mu Tau Xir weicht, wo das Licht beider Gestirne miteinander in den Großen Orgeln verschmilzt und die Umgebung mit einem blassvioletten Hauch überzieht.
Ihre Mitschwestern waren bereits schlafen gegangen, und Oniki glaubte sich allein. Sie genoss die leichte Brise und die betörenden Düfte der blühenden Blumen, Sträucher und Bäume. An einer Wegbiegung fiel der jungen Frau eine seltsame Gestalt unter einem gelben Rostenstrauch auf. Neugierig geworden, ging sie näher und entdeckte einen schlafenden Mann. Sein Kopf ruhte auf dem ausgestreckten
Arm. Sie beugte sich über ihn. Sein dunkelhäutiges Gesicht war von schwarzen Locken umrahmt und drückte gleichzeitig Stärke und Verletzlichkeit aus. Eine männliche, aber gleichzeitig noch kindliche Anmut, die Oniki zutiefst rührte. Über einer schwarzen Pumphose trug er eine lange Tunika aus Rohseide, an den Füßen Ledersandalen. Auf den ersten Blick schien er friedlich zu schlafen, doch als sich Oniki näher über ihn beugte, entdeckte sie Angst, ja Entsetzen in seinen Gesichtszügen; ein Entsetzen, das in den Gesichtern jener Menschen zu finden war, die fast von einem gewaltsamen Tod überrascht worden waren. Oniki hat es einmal im Gesicht einer Schwester gesehen, die fast von einer Korallenschlange getötet worden wäre.
Sie fragte sich, wie dieser Fremde in den Garten hatte eindringen können, ohne die Alarmanlage auszulösen. Verwirrt richtete sie sich wieder auf. Der Unbekannte löste seltsame Gefühle in ihr aus; Gefühle die ihr unbekannt waren, von denen sie nicht wusste, wie sie darauf reagieren sollte.
In einiger Entfernung spazierten zwei Matrionen, sich leise unterhaltend, unter den Arkaden dahin. Oniki hätte sie herbeirufen können, aber ihr Mund blieb geschlossen. Im völligen Bewusstsein, dass das, was sie tat, unverantwortlich war, wartete sie, bis die beiden Frauen verschwunden waren, kniete nieder und legte den jungen Schlafenden über ihre Schulter. Er war nicht schwerer als ein Sack voller Flechten und eine leichte Last für sie, da sie seit ihrem siebten Lebensjahr, vom Tage ihres Eintritts in den Orden, darauf trainiert worden war, schwere Bürden zu tragen.
Zum ersten Mal in ihrem Leben berührte sie den Körper eines Mannes und erinnerte sich sofort an die weichen, warmen Berührungen ihres Vaters als Kind und dass er
sie weinend beim Abschied »mein kleiner Blumenvogel« nannte.
Mit klopfendem Herzen
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