Terroir
auch. Archetypischer Traum vom edlen süßen Wein? Den gibt’s in allen Ländern. Kein Anbaugebiet der Welt, das nicht eine edelsüße Spezialität für besondere Anlässe kennt. Vielleicht lag es daran, dass viele deutsche Winzer selbst ganz gern süßen Wein getrunken haben. Und mit Sicherheit lag es auch daran, dass mit den verlorenen traditionellen Märkten in Mittel- und Ostdeutschland für den deutschen Wein neue Absatzwege gesucht werden mussten. Dass diese zwanzig Jahre nach dem Krieg nicht vorrangig im westeuropäischen Ausland zu finden waren, lag auf der Hand. Und in Westdeutschland: Die versnobten Hanseaten tranken traditionell Bordeaux, und die Neureichen protzten mit Champagner. Letztendlich suchten und fanden viele deutsche Winzer ihr Glück beim Kegelclub „Alle Neune“ aus Wanne-Eickel. Und da der Wein ja eh nicht zum Essen, sondern am Samstagabend zum Kuhlenkampf getrunken wurde, war das mit der Restsüße ja auch gar nicht so schlimm.
Das änderte sich erst, nachdem die Deutschen bei ihren ersten Urlaubsfahrten lernten, dass Wein auch als Essensbegleiter getrunken werden kann. Und auch zu Hause bei Toni in der Pizzeria Adria schmeckte der Chianti aus der schicken Bastflasche zur Vier-Jahreszeiten-Pizza irgendwie besser als das süße Möselchen. Die Deutschen, vor allem die jüngeren, lernten neue Namen: Frascati, Edelzwicker, Chablis. Diese Weine trugen zwei wichtige Attribute. Sie waren erstens nicht deutsch und zweitens trocken. Die Weine der 68 er-Generation.
Nach Buttercremetorten und Schnitzelranch splittete sich Deutschlands Gastrolandschaft. Neben „Gut bürgerlich“ gab es immer mehr „Türken“ und „Italiener“. Aber auch eine Adaption der Nouvelle Cuisine. Und wer lieferte den passenden Wein zum Essen? Die deutschen Winzer – ich bitte die Ausnahmen von der Regel, ganz besonders Franz Keller aus Oberbergen im Kaiserstuhl und die vielen standhaften Franken, um Entschuldigung ob derartiger Pauschalierungen – waren zu blöd, den Paradigmenwechsel wahrzunehmen und produzierten trotz untergehender Novembersonne ihren Goldenen Oktober. Noch funktionierte ja zumindest der cheap and sweet Liebfraumilchweltmarkt.
Nicht mehr lange. Die Neue Welt machte sich auf, den Europäern das Fürchten zu lehren. Kalifornien, Australien, gefolgt von Südafrika und Chile. Ob nun, wie vor allem in Australien, der Weinbau steuerlich gefördert wurde oder wie in den prohibitiven USA eher mit bigotten Argusaugen betrachtet wurde: Während Europa weitgehend in kleinen, subventionierten Strukturen festklebte, entwickelte sich in der Neuen Welt eine der Produktivkraftentwicklung angepasste, moderne kapitalistische Weinproduktion. Landarbeiterlöhne auf niedrigstem Niveau, fruchtbares Land scheinbar ad libitum, Transportkosten im Containerschiff, die nicht der Rede wert sind: optimale Rahmenbedingungen. Und endlich auch die Unternehmensgrößen, die ein modernes Wirtschaften erlaubten. Da werden zum Beispiel in einem kindergarden genannten Versuchskeller einer mittelgroßen australischen Kellerei mehr Liter Wein verarbeitet als etwain Rüdesheim oder Meursault wachsen. Im Konzentrationsprozess der letzten Dekaden haben sich weltweit agierende große Konzerne etabliert. An der Spitze stehen Firmen wie die New Yorker Constellation Brands und das kalifornische „Familienunternehmen“ Gallo, die zusammen mit einem Jahresumsatz von über zehn Milliarden Dollar in etwa das Umsatzvolumen der gesamten Weinproduktion Deutschlands realisieren.
Aber auch im alten Europa hat sich einiges bewegt. In einem komplizierten Geflecht von kleinbürgerlicher Familienideologie und kapitalistischem Denken, ländlicher Struktur- und Sozialpolitik, nationalen und EU-Subventionen, zwischen bäuerlichen Familienbetrieben, Genossenschaften und Großgrundbesitz entwickelten sich auch etliche Großbetriebe mit Umsätzen im zumindest dreistelligen Millionenbereich. Bekannt sind Marken wie Antinori aus Italien, Mateus Rosé aus Portugal und Marqués des Cáceres aus Spanien. Weniger bekannt, aber teilweise noch wesentlich umsatzstärker sind einige Genossenschaften und Kellereien, die für große Händler und Discounter deren unterschiedliche Markenweine abfüllen.
Den traditionellen Exportländern Frankreich und Deutschland geht es seit den 80 er-Jahren systematisch an den Kragen. Deutscher Wein, der sich in seiner Mutante namens Liebfraumilch selbst aufs Abstellgleis gefahren hatte, bekam den endgültigen Todesstoß. Er wurde
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