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Terroir

Terroir

Titel: Terroir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Heymann-Loewenstein
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formulierte, die „politische Wetterecke der Rheinprovinz“. Denn neben dem Gallisieren, der Idee des corriger la fortune , steht sie für zwei weitere bis in die heutige Zeit hineinreichende Strategien zur Begegnung ökonomischer Krisen.
    Karl Marx, geboren 1818 in Trier als Spross einer bedeutenden Rabbinerfamilie, beschäftigte sich 1842 in einem Artikel der Rheinischen Zeitung mit den Auswirkungen des neuen preußischen Holzdiebstahlgesetzes. Als einer der Ersten beschrieb er kriminelles Verhalten nicht als Folge von Schicksal oder Vererbung, sondern soziologisch als Ausdruck und Folge sozialer Lebensumstände. Hier legte Marx den Grundstein für seine später formulierten Theorien, das Elend der Massen nicht als gottgegeben hinzunehmen, sondern es nach gründlicher Analyse der ökonomischen Grundlagen durch den Übergang der bürgerlichen in die sozialistische Gesellschaft zu überwinden. Ein Denkansatz, der in der Weinwelt auf wenig fruchtbaren Boden gefallen ist – und nach marxistischer Logik ja auch gar nicht fallen konnte. Schließlich war die Weinproduktion weitgehend feudal oder kleinbürgerlich strukturiert. Nennenswerte kapitalistische Lohnarbeit als prägende Arbeitsverfassung im weinbaulichen Sektor hat es wohl nur im Douro-Tal gegeben. Und hier wurden die sozialen Bewegungen durch Grundbesitzer und Kirche im Ansatz erstickt. Nur im Süden Frankreichs gärt es seit Jahrzehnten. Die Winzer organisierten sich in mehr oder weniger anarcho-sozialistischen Bewegungen und machten durch Straßenblockaden und Sprengungen von Kellereien auf sich aufmerksam. So mancher Tanklastzug mit billigem italienischem Tafelwein wurde nächtens auf der Raststätte von aufgebrachten Winzern aufgebohrt und der Inhalt ergoss sich indie Kanalisation (Achtung, Dünnsäureverklappung!). Wenn diese Aktionen auch nicht gerade als Meilensteine des Klassenkampfs zu gewichten sind, so sorgten die linken Parolen doch zumindest dafür, dass die südfranzösischen Winzer über Jahrzehnte mit vielen Millionen aus Paris und Brüssel subventioniert und damit einigermaßen ruhig gestellt wurden.
    Das Erbe von Karl Marx erleben wir heute auf einer ganz anderen Ebene. Es ist die im Holzdiebstahl beschriebene soziale Determiniertheit menschlichen Verhaltens, die von vielen nachfolgenden linken und mittlerweile auch bürgerlichen Gesellschaftswissenschaftlern aufgegriffen und weiterentwickelt wurde. Diese Denke war in den wirtschaftlich erfolgreichen Nachkriegsjahren in den Industrienationen gesellschaftlicher Konsens. Nur wenige Reaktionäre sprachen in dieser Zeit von Genen und göttlichen Fügungen. Erst heute, nach dem für viele Menschen offensichtlichen Bankrott der Aufklärung und ihrer sozialistischen Utopien, schleicht sich langsam das Mittelalter wieder in die moderne Gesellschaft. Hat man aber schon einmal einen Winzer sagen hören: „Mir geht es wirtschaftlich so schlecht, wahrscheinlich will mich Gott auf eine schwere Prüfung stellen“? Oder: „Ich schaffe es einfach nicht, einen guten Wein herzustellen. Hab’ ich also scheinbar doch die Gene meiner blöden Großmutter geerbt.“ Nein, in der Weinszene geht es wie in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen zu. Schuld sind die anderen. Das Wissen um die sozialen Interdependenzen wird als Alibi und Entschuldigung für die eigene Unfähigkeit missbraucht. In der Psychoszene galt lange Zeit „Die Väter sind die Täter“, bis dann irgendwann die Mütter drankamen. In der Feministenszene waren es die Männer oder das Patriarchat. Und, da herrscht weitgehend Einigkeit: „Der herrschenden Klasse“, „der Regierung“, denen haben wir das alles zu verdanken.
    Auch die Winzer leiden. Unter dem billigen, gepanschten Auslandswein, den bösen großen Kellereien, die manipulieren und nur Geld verdienen wollen, unter den Händlern, die Rabatte einfordern, unter den Kunden, die so blöd sind und gar nicht merken, wie exzellent der eigene Wein doch ist, unter den Subventionen, die viel zu niedrig sind und von denen die anderen immer mehr bekommen, unter einer Regierung, die nichts tut und dann andauernd noch Steuern und Abgaben verlangt, unter den Banken, unter der Weinkontrolle, und, natürlich, ganz schlimm, unter den Bürokraten in Brüssel. Das Klagen sei des Landwirts erste Bürgerpflicht, meinte schon Otto von Bismarck.
    Nur einzig noch die Vaterhand,
des Vaters von dem Vaterland
könnte Labsal uns gewähren
und den Grabgesang abwehren,
    dichtete 1837 ein unbekannter

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