Terroir
Zeitgenosse unter der Überschrift Der kranke Winzer in der Rheinprovinz im somnambulen Zustand.
Das Prinzip der Delegation von Verantwortung nimmt auch an anderer Stelle immer mehr Gestalt an. Nachdem Politiker und Professoren den Winzern jahrelang konsequent eingebläut haben, was für tolle Produzenten und gleichzeitig aber schlechte Marketingmanager sie seien, beweisen auch die rückständigen Europäer immer mehr Marktorientiertheit. Nach dem Motto „Der Wurm muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler“ werden die Weine bewusst immer besser den vermeintlichen Kundenwünschen angepasst. „Der Kunde ist König“, tönt es immer lauter. Originalton Heilbronner Weinmarketingtag 2008 : „Qualität ist das, was vom Kunden gekauft wird, und nicht das, was irgendwo in Büchern steht.“ Also Rosamunde Pilcherstatt Goethe? Wildecker Herzbuben und Dieter Bohlen statt Callas, Caruso und Prégardien? „Der beste Wein ist der verkaufte Wein!“ Scheinbar hat Karl Marx doch recht mit seiner Prognose im Kommunistischen Manifest , der Kapitalismus würde „alles Heilige entweihen“ und alle gesellschaftlichen Bereiche „dem Kapital unterjochen“.
Ob dem königlichen Regierungs- und Departementsrat Beck die Ideen von Karl Marx geläufig waren, ist so wenig bekannt wie sein Verhältnis zu Ludwig Gall. Beck wurde in den 60 er-Jahren des 19 . Jahrhunderts von der königlichen Regierung zu Trier beauftragt, ein Art „Anti-Gall“ zu verfassen mit der Beweisführung, „dass in der vom Winzer betriebenen sogenannten Weinveredelung oder vielmehr Weinverfälschung die größte Gefahr für die weitere Entwicklung des Weinbaus zu finden ist“. Warum Beck ausgerechnet den Winninger Distriktsarzt Dr. Karl Wilhelm Arnoldi mit den Vorschlägen zur Förderung des Weinbaus an der Mosel und Saar beauftragte? Vielleicht war es keine schlechte Taktik, das bekannte, aber doch weit genug entfernt wohnende und damit nicht in der direkten Schusslinie stehende Mitglied der Akademie der Naturforscher die prekären Formulierungen finden zu lassen.
Um es kurz zu machen: Das Buch, das 1868 erschien, wurde ein Knüller. Und ist es immer noch. Denn es zeigt auf, wie ein wirtschaftliches Überleben der Winzer durch konsequentes Qualitätsstreben möglich ist. Hier wird nicht nur beschrieben, wie ein Weinberg angelegt sein sollte, wie die Reben zu pflegen und die Trauben zu ernten sind: „Der kluge Winzer“, so postuliert Arnoldi, „erntet die Trauben erst, wenn sie nicht bloß reif, sondern überreif und abgängig werden; wenn die Beeren nicht bloß durchsichtig, sondern die Trauben gelb, dann bräunlich … sind.“
Eigentlich sollte das jedem Winzer gefühlsmäßig klar sein. Aber … Kleine Kuschelrunde mit der sonst so unter Beschuss stehenden Forschungsanstalt in Geisenheim: Chapeau, Frau Professor Christmann. Sie hatten vor knapp zehn Jahren die Courage, im Gravitationszentrum der Öchslegalaxie dieses Geheimwissen erstmalig in einem deutschen Hörsaal ihren Studenten zu erläutern!
„Trocknet man nämlich die edelsten und besten Trauben am Stock“, so fährt Arnoldi in seinen Anleitungen zur Weinlese fort, „so erhält man den edelsten Rosinenwein.“ Das heißt Weine, die heute als Auslese Goldkapsel, als Beeren- und Trockenbeerenauslese bezeichnet werden. Arnoldi getraut sich sogar, noch weiter in die Tiefe zu gehen, und spricht das an, was wir heute im Psychologendeutsch die innere Haltung nennen:
Der Winzer darf sich nicht selbst untreu werden, das heißt, er darf sich unter keiner Bedingung verleiten lassen, das Ziel, welches er nicht ohne Opfer an Zeit und Geld erreichen kann, leichter und rascher durch Künsteleien erreichen zu wollen.
An der Frage der Nassverbesserung entzündeten sich die gleichen Diskussionen, wie sie heute bei der Einführung neuer Technologien in Weinbau und Keller geführt werden. Die Mahner warnen vor missbräuchlicher Anwendung, vor Imageschaden, vor Überproduktion mit anschließendem Preisverfall. Und die Protagonisten verweisen auf die Arbeitsplätze, darauf, dass es ja gar nicht so schlimm sei und dass die bösen Ausländer das ja ohnehin die ganze Zeit schon so machen würden.
Auch die Ausweitung von Rebflächen wird in dem Buch Arnoldis angesprochen. Katasternamen wie „Auf’m Acker“ am Flussufer klären darüber auf, dass auf nasskalten Schwemmlandböden selbst im warmen Mittelalter keine Rebstöcke standen. „Wo ein Pflug kanngehen, soll kein Weinstock stehen“, postulierte
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