Terror
verschlungen. Irving erkannte, dass er auf die Oberseite des blauweißen Schädels blickte, der mehr als doppelt so groß war wie der der Frau. Die Kiefer hatten sich um ihren offenen Mund und ihr vorgestrecktes Kinn geschlossen, ohne sie zu zermalmen. Immer noch reckte sie die Arme hoch in die Nacht, fast als wollte sie das riesenhafte Geschöpf aus Haaren und Muskeln umfangen.
Und dann begann die Musik.
Irving sah das Schwingen beider Köpfe, aber er brauchte eine halbe Minute, um zu begreifen, dass das orgiastisch tiefe Tuten und das erotische Dudelsackpfeifen von der Frau ausging.
Das monströse Wesen, Bär oder Dämon, das so hoch aufragte wie die Eisbrocken der Umgebung, spielte mit seinem Atem auf ihren Stimmbändern, als wäre ihre Kehle ein Rohrblattinstrument. Die Triller und die vollen Basstöne wurden lauter, schneller, drängender – er bemerkte, wie Lady Silence den Kopf hob und den Hals in die eine Richtung beugte, während das Bärenwesen den Schlangenhals und den dreieckigen Schädel in die andere Richtung neigte. Sie sahen aus wie Liebende, die nach der besten Stellung für einen leidenschaftlichen Kuss mit offenem Mund suchten.
Schneller und schneller kamen die Töne, und Irving war sich sicher, dass der Rhythmus jetzt auch auf dem Schiff zu hören war, dass jeder Mann an Bord in diesem Moment genauso eine starke Erektion haben musste wie er selbst, doch dann brachen die Laute urplötzlich ab, als wäre der Höhepunkt einer heftigen Liebesbegegnung erreicht.
Der Kopf des Wesens richtete sich wieder auf. Der weiße Hals wand und streckte sich.
Lady Silence ließ die Arme nach unten sinken, als wäre sie zu erschöpft und berauscht, um sie noch länger hochhalten zu können. Ihr Kopf sackte nach unten auf ihre mondsilbrigen Brüste.
Jetzt wird es sie verschlingen. Mühsam drang dieser Gedanke durch die Schichten von Taubheit und Fassungslosigkeit über das, was Irving gerade gesehen hatte. Es wird sie in Stücke reißen und fressen.
Nichts davon geschah. Auf allen vieren tapste das weiße Ungeheuer durch die blauen Eissäulen davon, doch schon nach einer Sekunde war es wieder da, neigte den Kopf tief vor Lady Silence und ließ etwas fallen. Irving hörte das Klatschen von etwas Organischem auf dem Eis. Das Geräusch klang irgendwie vertraut, aber im Augenblick hatte er völlig den Bezug zur Wirklichkeit verloren und konnte seine Sinneseindrücke nicht mehr richtig einordnen.
Wieder lief das Ungeheuer mit geschmeidigen Bewegungen davon. Irving konnte den Aufprall seiner riesigen weißen Tatzen auf dem festen Meereis spüren. Nach einer Minute kehrte es zurück und ließ wieder etwas vor dem Eskimomädchen fallen. Und noch ein drittes Mal.
Dann verschmolz das Wesen mit der Dunkelheit und war endgültig verschwunden. Die junge Frau kniete jetzt allein auf der Eislichtung, vor sich einen niedrigen, dunklen Haufen.
Eine Minute lang blieb sie reglos. Irving dachte wieder an die papistische Kirche seines entfernten irischen Cousins und an die
Gemeindemitglieder, die nach dem Gottesdienst betend in ihren Bänken verweilten. Schließlich stand sie auf, schlüpfte schnell mit den bloßen Füßen in ihre Pelzstiefel und streifte Hose und Anorak über.
Leutnant Irving wurde bewusst, dass er am ganzen Körper zitterte. Zum Teil lag das sicher an der Kälte. Er konnte von Glück sagen, wenn er noch genug Wärme im Körper und Kraft in den Beinen hatte, um lebend zum Schiff zurückzugelangen. Es war ihm unbegreiflich, wie sich das Mädchen hier so lange nackt aufhalten konnte, ohne zu erfrieren.
Silence hob die Dinge auf, die ihr das Wesen hingeworfen hatte, und bettete sie sorgfältig in die pelzbedeckten Arme, so wie eine Frau ein kleines, noch nicht entwöhntes Kind halten würde. Sie überquerte die Lichtung und steuerte auf eine Lücke zwischen den Eiszacken zu. Anscheinend wollte sie zurück zum Schiff.
Plötzlich blieb sie stehen, und ihr Kopf drehte sich nach hinten. Zwar konnte er in den Tiefen der Kapuze ihre Augen nicht erkennen, doch er spürte, wie sich ihr Blick in ihn bohrte. Er war immer noch auf allen vieren und merkte, dass er die Deckung der Eiszacken drei Fuß weit hinter sich gelassen hatte und im Mondlicht gut sichtbar war. In dem unbändigen Wunsch, ja nichts zu verpassen, hatte er völlig vergessen, sich zu verstecken.
Lange verharrten sie so. Irving konnte nicht mehr atmen. Er wartete darauf, dass sie sich bewegte, dass sie vielleicht in die Hände klatschte, um das Wesen
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