Terror
kurzen Tauzeit im vergangenen Sommer entstanden. Irving war schon mehrere Fuß weit aus dem Schacht herausgekrochen, ehe er bemerkte, dass er ihn hinter sich hatte. Der dünne Bugspriet samt gefrorenem Tauwerk und Vorgeschirr schwebte wie ein Baldachin über ihm und verstellte nicht nur ihm den Blick zum Himmel, sondern auch den Männern der Bugwache die Sicht nach unten. Jenseits des Bugspriets ragte die Terror als schwarzer Umriss über ihm auf, und die Bordlaternen warfen schwache Lichtstrahlen aufs Eis. Vor ihm lag der Weg, der hinaus in die Eiswüste führte.
Schlotternd streifte sich Irving die Kleiderschichten über. Seine Hände zitterten so stark, dass er sein Wollwams nicht zuknöpfen konnte, doch das war nicht so wichtig. Auch mit dem
Überzieher hatte er Schwierigkeiten, aber wenigstens waren die Knöpfe viel größer. Als er endlich seine Plünnen anhatte, war der junge Leutnant bis auf die Knochen durchgefroren.
Wohin?
Fünfzig Fuß vor dem Schiffsbug war das Eis ein einziger Wald aus Trümmern und windzerklüfteten Zacken. Silence konnte jede Richtung eingeschlagen haben. Das Eis schien in einer ziemlich geraden Linie niedergetreten, die von dem Schacht unter dem Bugspriet bis hierher verlief. Zumindest bot dieser Weg am meisten Deckung, wenn man sich vom Schiff entfernte. Irving stand auf und folgte mit der Brechstange in der rechten Hand der rutschigen Eismulde Richtung Westen.
Wäre das unheimliche Geräusch nicht gewesen, hätte er sie nie gefunden.
Er irrte irgendwo in dem Eisgewirr umher, mehrere Hundert Faden vom Schiff entfernt. Die bläuliche Mulde unter seinen Füßen war längst verschwunden, oder vielmehr hatten sich mehrere ähnliche Rinnen dazugesellt. Obwohl das Licht des Vollmonds alles in einen fast taghellen Schein tauchte, hatte er nirgends Bewegungen oder Spuren wahrgenommen.
Dann drang ein unheimliches Jammern an sein Ohr.
Nein, erkannte er, als er stehen blieb. Er schlotterte noch immer von der Kälte, doch nun ging das Zittern tiefer. Das war kein Jammern. Kein Laut, wie ihn ein Mensch hervorbringen konnte. Es kam nicht aus seiner unmittelbaren Nähe, war aber an Deck des Schiffs sicher nicht mehr zu hören – vor allem da der Wind in dieser Nacht aus Südosten blies, was äußerst ungewöhnlich war. Es war das unmelodische Spiel eines unendlich seltsamen Musikinstruments … es erinnerte ihn zugleich an einen gedämpften Dudelsack, an das Tuten eines Horns, an eine Oboe, an eine Flöte und an menschlichen Gesang. Und doch
waren all diese Klangfarben nicht voneinander getrennt, sondern verschmolzen zu einem einzigen Instrument. So etwas hatte Irving in seinem ganzen Leben noch nie gehört.
Ganz anders als beim Spiel nach Noten setzten diese Töne unvermittelt ein, steigerten sich dann erregt und rissen schlagartig einfach ab wie bei einem geschlechtlichen Höhepunkt. Die Laute kamen aus einem Trümmerfeld neben einem Pressrücken, der nur fünfzehn Faden nördlich des mit Eismalen und Fackeln gesicherten Weges zwischen der Terror und der Erebus lag. Kapitän Crozier beharrte nach wie vor darauf, dass dieser Pfad instand gehalten wurde, doch heute Nacht arbeitete niemand an den Malen. Irving war ganz allein auf dem gefrorenen Ozean. Zusammen mit dem Urheber der geheimnisvollen Musik.
Er kroch durch das bläulich beschienene Labyrinth aus hohen Zinken und Brocken. Wenn er sich zu verirren drohte, blickte er hinauf zum Mond. Der gelbe Ball wirkte eher wie ein Planet, der plötzlich am sternenhellen Himmel erschienen war. Ganz anders auf jeden Fall, als Irving den Mond in seinen langen Dienstjahren an Land und bei seinen kurzen Fahrten auf See je erlebt hatte.
Die Luft um ihn herum schien zu beben vor Kälte, als drohte sogar die Atmosphäre festzufrieren. Eiskristalle hatten einen riesigen Doppelring um den Mond entstehen lassen, dessen untere Hälfte hinter dem Pressrücken und den hohen Eisbergen verschwand. Wie Diamanten an einem Silberreif saßen am äußeren Kranz drei hell leuchtende Kreuze.
Derlei hatte der Leutnant während der langen Winternacht in der Nähe des Nordpols schon mehrmals beobachtet. Der Eislotse Blanky hatte ihm erklärt, dass es nur das Mondlicht war, das sich in den Eiskristallen brach wie in Edelsteinen. Dennoch verstärkte diese Erscheinung noch sein Gefühl religiöser Ehrfurcht und Verwunderung im blau schimmernden Eis, als nur wenige Faden entfernt wieder das seltsam klagende Tuten begann. Erneut
steigerte es sich bis zu einer
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