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Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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zurückzurufen. Ihren Beschützer. Ihren Rächer. Ihren todbringenden Dämon.
    Dann löste sich ihr Blick von ihm, und sie verschwand zwischen den Eissäulen an der südöstlichen Seite des Kreises.
    Immer noch zitternd, als hätte er Schüttelfrost, wartete Irving noch mehrere Minuten, bevor er sich aufrichtete. Seine Brust war taub vor Kälte; er spürte nur noch die brennende, allmählich abklingende Erektion und das heftige Beben seiner Glieder.
Doch statt dem Mädchen zum Schiff zu folgen, trat er wankend vor zu der Stelle, wo sie gekniet hatte.
    Im hellen Mondlicht schimmerte ein schwarzer Fleck. Irving kniete sich hin, streifte Fäustling und Handschuh ab, tauchte vorsichtig den Finger in die kleine Lache und kostete. Es war Blut, aber wahrscheinlich nicht von einem Menschen.
    Das Ungeheuer hatte ihr rohes, noch warmes Fleisch gebracht. Von irgendeinem frisch getöteten Tier. Das Blut schmeckte nach Kupfer, so wie seines und das jedes anderen Menschen schmecken würde, doch er vermutete, dass sich das auch bei vielen Tieren so verhielt. Aber was war das für ein Tier, und woher stammte es? Die Teilnehmer der Franklin-Expedition hatten schon seit über einem Jahr keine Tiere mehr gesehen.
    Bei den herrschenden Temperaturen gefror Blut schon nach kurzer Zeit. Das Wesen hatte seine Geschenke an Lady Silence also erst wenige Minuten zuvor getötet, während Irving stolpernd durch das Eisgewirr geirrt war, um die Eskimofrau zu finden.
    Er wich vor dem schwarzen Fleck zurück, so wie er vielleicht vor einem heidnischen Steinaltar zurückgewichen wäre, auf dem gerade ein unschuldiges Opfer geschlachtet worden war. Erst einmal wollte er sich sammeln, um wieder richtig atmen zu können, und die Luft schnitt ihm bitterkalt in die Lungen, als er es keuchend versuchte. Dann musste er seine Benommenheit abschütteln und seine durchfrorenen Beine dazu bringen, ihn zurück zum Schiff zu tragen.
    Der Weg durch den Eisschacht und die lose Planke ins Kabelgatt kam nicht in Frage. Er würde den Steuerbordposten anrufen, bevor er in Reichweite der Flinte kam, und wie ein Mann die Rampe hinaufmarschieren, ohne Fragen zu beantworten. Nur dem Kapitän wollte er Rede und Antwort stehen.
    Sollte er dem Kapitän überhaupt von dieser Sache erzählen?
    Irving hatte keine Ahnung. Er wusste nicht einmal, ob ihn das
Wesen aus dem Eis, das sich immer noch in der Nähe herumtreiben musste, zurück aufs Schiff lassen würde. Und er wusste nicht, ob er noch genug Kraft für den langen Weg hatte.
    Er wusste nur, dass er nie wieder derselbe sein würde.
    Irving wandte sich nach Südosten und betrat erneut den Wald aus Eis.

23
Hickey
    70°05′ NÖRDLICHE BREITE | 98°23′ WESTLICHE LÄNGE
17. DEZEMBER 1847
     
     
     
    H ickey hatte beschlossen, dass dieser lange Lulatsch von einem Leutnant sterben musste und dass heute genau der richtige Tag dafür war.
    Eigentlich hatte der zwergenhafte Kalfaterersmaat nichts Persönliches gegen den naiven jungen Schnösel. Aber mit dem unvermuteten Erscheinen dort unten im Lastdeck vor über einem Monat hatte sich Irving sein eigenes Grab geschaufelt.
    Nur die Arbeits- und Wachpläne hatten Hickey bisher davon abgehalten, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Zweimal schon hatte er sich als Posten einteilen lassen, als Irving wachhabender Offizier war, doch in beiden Fällen war Magnus Manson nicht an Deck gewesen. Hickey würde den Zeitpunkt und die Vorgehensweise festlegen, aber für die Ausführung brauchte er Manson. Nicht dass Cornelius Hickey Angst davor gehabt hätte, einen Menschen zu töten. Er hatte schon dem Ersten die Kehle durchgeschnitten, bevor er auf eigene Kosten ein Bordell besucht hatte. Nein, es lag einfach an der für diesen Mord erforderlichen Methode, dass er auf seinen schwachsinnigen Gefolgsmann und Bettkumpan Magnus Manson angewiesen war.

    An diesem Freitag jedoch waren alle Voraussetzungen gegeben. Sie gehörten zu einem Vormittagstrupp von dreißig Leuten, die draußen auf dem Eis die Fackelmale zwischen der Terror und der Erebus reparieren und verstärken mussten. Neun Seesoldaten mit Büchsen sollten die Trupps schützen, aber tatsächlich waren die Arbeitenden über eine Strecke von fast einer Meile verteilt, und nur jeweils fünf oder weniger unterstanden dem Kommando eines Offiziers. Die drei Offiziere hier auf der östlichen Hälfte des dunklen Eismalpfades waren alle von der Terror  – die Leutnants Little, Hodgson und Irving. Hickey selbst hatte dafür gesorgt, dass er

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