Terror
Selbst wenn sich innen aus irgendwelchen Gründen eine Planke löste, konnte das der Bugarmierung des Schiffs nichts anhaben.
Doch zumindest an dieser Stelle gab es keine Panzerung mehr. Aus der höhlenartigen Finsternis jenseits der Öffnung im Rumpf blies eisige Kälte ins Schiff. Dieser Teil des Bugs war durch den Druck des Eises unter dem Heck und die daraus entstehende Krängung unter das Eis geschoben worden.
Leutnant Irvings Herz klopfte heftig. Hätte die Terror durch ein Wunder morgen wieder im Wasser gelegen, wäre sie gesunken.
Konnte Lady Silence dem Schiff diesen Schaden zugefügt haben? Der Gedanke beängstigte Irving mehr als die Vorstellung, sie könnte nach Belieben erscheinen und verschwinden. War es möglich, dass eine junge Frau, noch keine zwanzig Jahre alt, Eisenplatten vom Rumpf eines Schiffs riss und schwere Bugplanken lockerte, die auf einer Werft zurechtgebogen und festgenagelt worden waren? Und dass sie genau wusste, wo sie das alles tun musste, damit über fünfzig Leute an Bord, die das Schiff besser kannten als das Gesicht ihrer Mutter, nichts davon merkten?
Irving, der in dem niedrigen Verschlag schon in die Knie gegangen war, holte auf einmal tief Luft. Sein Herz pochte immer noch wie wild.
Das alles konnte er sich nur so erklären, dass die Terror die zwei Sommer währende heftige Schlacht gegen das Eis nicht unbeschadet überstanden hatte. Zuerst war es durch die Baffin-Bucht gegangen, dann über den Lancaster-Sund, den ganzen
Weg um die Cornwallis-Insel vor der Überwinterung auf der Beechey-Insel, schließlich folgte im nächsten Jahr die gewaltsame Fahrt durch den Sund und durch die Straße, der die Männer inzwischen Franklins Namen gegeben hatten. Irgendwann zum Ende hin musste sich unterhalb der Wasserlinie ein Stück der Eisenarmierung am Bug gelöst haben. Und bestimmt war die starke Rumpfplanke erst nach innen geschoben worden, nachdem das Eis das Schiff mit seinem Würgegriff umschlossen hatte.
Kann sich denn diese Eichenplanke überhaupt durch eine andere Kraft gelöst haben als durch das Eis? Etwa durch eine Kraft, die ins Schiff gelangen wollte?
Im Augenblick spielte das keine Rolle. Lady Silence war erst vor wenigen Minuten verschwunden, und John Irving hatte noch immer die Absicht, ihr zu folgen. Er wollte nicht nur herausfinden, wohin sie in der Dunkelheit ging, sondern auch, ob sie es trotz des undurchdringlichen Eises und der schrecklichen Kälte irgendwie auf wundersame Weise schaffte, Fische oder Wild zu fangen.
Wenn dem so war, konnte dieser Umstand ihnen allen das Leben retten. Wie die anderen hatte auch Leutnant Irving von den verdorbenen Lebensmitteln in Goldners Konservenbüchsen gehört. Auf beiden Schiffen ging inzwischen das Gerücht um, dass bis zum Sommer die Vorräte erschöpft sein würden.
Er passte nicht durch die Bresche.
Irving zerrte an den umliegenden Planken, doch alles bis auf dieses eine wie auf Scharnieren bewegliche Brett saß fest wie eingemauert. Das einen Fuß breite und eineinhalb Fuß hohe Loch war der einzige Ausgang. Und dafür war er zu massig.
Er legte das Ölzeug, den schweren Überzieher, den Schal, die Mütze und die Welsh Wig ab und schob sie durch den Spalt hinaus ins Freie. Noch immer waren seine Schultern und sein Oberkörper zu breit, obwohl er einer der dünnsten Offiziere an Bord war. Zitternd vor Kälte knöpfte Irving das Wams und die
Wolljacke darunter auf und stopfte sie ebenfalls durch die Öffnung.
Wenn er jetzt nicht durch die Planke kam, musste er sich eine gute Erklärung dafür einfallen lassen, dass er ohne seine äußeren Kleiderschichten aus dem Lastdeck zurückkam.
Doch er passte hindurch. Ganz knapp. Ächzend und fluchend zwängte er sich durch das enge Loch, dass die Knöpfe von seinem Wollhemd sprangen.
Ich bin außerhalb des Schiffs und unter dem Eis. Die Vorstellung kam ihm ziemlich unwirklich vor.
Er befand sich in einer engen Eishöhle, die sich um den Bug und den Bugspriet gebildet hatte. Der Platz reichte nicht, um wieder in seine Kleider zu schlüpfen, also schob er das Bündel vor sich her. Er überlegte, ob er noch die Laterne aus dem Kabelgatt holen sollte, doch dann fiel ihm ein, dass bei seinem Wachdienst vor einigen Stunden der Vollmond geschienen hatte. So nahm er nur die metallene Brechstange mit.
Die Eishöhle war anscheinend mindestens so lang wie der Bugspriet – über achtzehn Fuß. Vielleicht war sie durch das Arbeiten des schweren Klüverbaums im Eis während der
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