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Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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fast ekstatischen Geschwindigkeit, um plötzlich abzubrechen.
    Irving versuchte sich Lady Silence mit irgendeinem bislang unbekannten Eskimoinstrument vorzustellen – einem urtümlichen, aus einem Rentiergeweih geschnitzten Horn vielleicht? Die Idee kam ihm albern vor. Zum einen hatten sie und der Mann, der gestorben war, kein solches Instrument mit sich geführt. Zum anderen wurde er das seltsame Gefühl nicht los, dass es nicht Lady Silence war, die dieses unbekannte Instrument spielte.
    Nachdem er über den letzten niedrigen Pressrücken gekrochen war, bewegte sich Irving weiter auf allen vieren auf die Stelle zu, von der die Laute kamen, um sich nicht durch das Knirschen seiner harten Stiefelsohlen auf dem Harsch zu verraten.
    Abermals hatte das Tuten, dessen Ursprung anscheinend gleich hinter dem nächsten Eiszacken lag, dem der Wind die Gestalt einer breiten Fahne verliehen hatte, eingesetzt und nun schwoll es zu dem lautesten, schnellsten, tiefsten und leidenschaftlichsten Crescendo an, das Irving bisher vernommen hatte. Erstaunt stellte er fest, dass er eine Erektion hatte. Irgendetwas an diesem tief dröhnenden, rohrblattartigen Klang war so … urtümlich … dass ihn ein Zittern überlief.
    Vorsichtig spähte er um die Eisfahne.
    Zwanzig Fuß vor ihm kniete Lady Silence auf einer glatten, glänzenden Eisfläche. Der Fleck war von Nadeln und Brocken aus Eis umgeben, und Irving hatte das Gefühl, unter dem funkelnden Doppelring des Vollmonds mitten in einen Stonehengekreis getreten zu sein. Sogar die Schatten hier waren blau.
    Unter ihr lag ein dicker Pelz, wahrscheinlich ihr Anorak, und ihr Rücken war Irving im Dreiviertelprofil zugekehrt. Er konnte die Rundung ihrer rechten Brust sehen, aber auch den Schimmer des Mondlichts auf ihrem langen schwarzen Haar und die silbrigen Glanzpunkte auf den sanften Wölbungen ihres straffen
Hinterns. Irvings Herz klopfte so wild, dass er Angst hatte, sie könnte es hören.
    Und Silence war nicht allein. Hinter ihr, in der dunklen Kluft zwischen den druidischen Eistrümmern auf der anderen Seite der Lichtung, ragte eine andere Gestalt auf.
    Irving erkannte sofort, dass es das Wesen aus dem Eis war. Ob weißer Bär oder weißer Dämon, es war hier und erhob sich drohend über der jungen Frau. Doch so angestrengt der Leutnant auch hinstarrte, es war schwer, die Gestalt zu erfassen: weißblauer Pelz vor weißblauem Eis, wuchtige Muskeln vor wuchtigen Hügeln aus Schnee und Eis, schwarze Augen, die sich kaum von der undurchdringlichen Schwärze hinter dem Wesen unterscheiden ließen.
    Jetzt bemerkte Irving, dass das dreieckige Haupt an dem merkwürdig langen Bärenhals sechs Fuß über der knienden Frau auf und ab pendelte wie der Kopf einer Schlange. Irving versuchte, die Größe dieses Kopfs zu schätzen, um einen Anhaltspunkt zu haben, wie man das Geschöpf am besten töten konnte. Doch es war unmöglich, die genaue Form und den Umfang des Schädels mit den kohlenschwarzen Augen zu bestimmen, weil er sich unablässig auf diese absonderliche Weise bewegte.
    Irving wusste, dass er eigentlich hätte schreien müssen. Mit der Brechstange in der Hand – da er bis auf sein Bootsmesser keine andere Waffe mitgebracht hatte – hätte er nach vorn stürmen müssen, um der Frau beizustehen und sie vielleicht zu retten. Doch seine Muskeln hätten ihm in diesem Augenblick nicht gehorcht. Er konnte nur in einer Art sexuell erregtem Entsetzen zusehen.
    Wie ein papistischer Priester, der die Messe liest und das Wunder der Eucharistie beschwört, hatte Lady Silence die Arme mit offenen Handflächen ausgestreckt. Irving hatte einmal mit seinem Cousin in Irland einen katholischen Gottesdienst besucht. Das Geschehen hier draußen im blauen Mondschein strahlte die gleiche sonderbar magische Feierlichkeit aus. Er schob sich ein
winziges Stück weiter nach vorn, um Silence’ Gesicht sehen zu können. Sie hatte keine Zunge und gab keinen Laut von sich, doch sie hatte die Arme ausgebreitet, die Augen geschlossen und den Kopf nach hinten geneigt. Der Mund war weit geöffnet wie bei einem Gläubigen, der die heilige Kommunion erwartet.
    So schnell wie bei einer zustoßenden Kobra zuckte der Hals des Geschöpfs nach unten, die aufgerissenen Kiefer schnappten zu und schienen Lady Silence’ untere Gesichtshälfte zu verschlingen.
    Fast wäre Irving ein Schrei entfahren. Nur das feierliche Gewicht des Augenblicks und seine lähmende Angst zwangen ihn zum Schweigen.
    Das Wesen hatte sie nicht

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