Terror
die Stiefel nackter Mann tanzte um einen hohen Haufen abgelegter Kleider auf einem Felsbrocken. Ref 12
Ein Kobold . Irving fühlte sich an Kapitän Croziers irische Sagen erinnert. Das Bild war ihm völlig unbegreiflich. Aber es war nicht der erste ungewöhnliche Anblick an diesem Tag.
Als er näher herantrat, erkannte er, dass es kein tanzender Kobold war, sondern der Kalfaterersmaat. Der Mann summte ein Seemannslied, während er seine Pirouetten drehte. Irvings Blick richtete sich unwillkürlich auf die madenhafte Blässe und die sichtbar vorstehenden Rippen des Mannes. Er hatte am ganzen Körper Gänsehaut und war beschnitten. Vor allem der bleiche, weiße Hintern des Tanzenden wirkte abstoßend und absurd.
Irving war nicht nach Lachen zumute, sein Herz schlug immer noch vor Aufregung darüber, dass er Tikiik und die anderen gefunden hatte. Ungläubig den Kopf schüttelnd, ging er auf den Mann zu. »Mr. Hickey, was um Himmels willen machen Sie da eigentlich?«
Der Kalfaterersmaat hörte auf zu tanzen. Er legte einen knochigen Finger an den Mund, als wollte er den Leutnant um Schweigen bitten. Dann beugte er sich über den Kleiderhaufen auf dem Felsbrocken und präsentierte Irving seinen Allerwertesten.
Der Mann ist übergeschnappt. Ich kann nicht zulassen, dass ihn Tikiik und die anderen so sehen. Irving überlegte, ob er den kleinen Mann mit ein paar Backpfeifen zur Vernunft bringen sollte oder ob er dann vielleicht nicht mehr als Bote zu gebrauchen war, um Farr und die anderen zu holen. Irving hatte mehrere Bogen Papier und einen Graphitstummel dabei, mit dem er eine Nachricht aufsetzen konnte, aber die waren in seiner Tasche unten im Tal.
»Jetzt hören Sie mal, Mr. Hickey …«, begann er in strengem Ton.
Der Kalfaterersmaat schnellte mit ausgestrecktem Arm so blitzartig herum, dass Irving im ersten Moment dachte, er wolle seinen Tanz fortsetzen.
Aber in der ausgestreckten Hand hielt er ein scharfes Bootsmesser.
Unvermittelt spürte Irving einen stechenden Schmerz im Hals. Er wollte weitersprechen, doch es ging nicht. Er hob beide Hände an die Kehle und senkte den Blick.
Über Irvings Hände und Brust sprudelte Blut, fiel bis hinunter auf seine Stiefel.
Noch einmal zuckte Hickeys Klinge in weitem Bogen durch die Luft.
Der zweite Hieb durchtrennte die Luftröhre des Leutnants. Er sank auf die Knie und deutete mit dem erhobenen rechten Arm auf Hickey, den er nur noch wie durch einen schmalen, dunklen Schacht wahrnahm. John Irving war so überrascht, dass er nicht einmal Zorn empfand.
Noch immer nackt, trat Hickey einen Schritt näher und ging wie ein knochiger, blasser Gnom in die Hocke. Irving war auf den kalten Kies gestürzt und spuckte unglaubliche Mengen an Blut. Er war schon tot, als ihm Cornelius Hickey die Kleider vom Leib riss und sich mit dem Messer über ihn hermachte.
38
Crozier
69°37′42′′ NÖRDLICHE BREITE | 98°41′ WESTLICHE LÄNGE 25. APRIL 1848
N achdem sie das Terror -Lager erreicht hatten, brachen seine Männer in den Zelten zusammen und schliefen wie Tote. Doch für Crozier gab es in dieser Nacht keinen Schlaf.
Zuerst ging er zu dem Zelt, das eigens errichtet worden war, damit Dr. Goodsir die Obduktion durchführen und den Leichnam für die Bestattung vorbereiten konnte.
Leutnant Irvings Leiche, die nach dem langen Rücktransport auf dem beschlagnahmten Schlitten der Wilden weiß und gefroren auf dem Tisch lag, ließ bloß noch vage menschliche Züge erkennen. Der junge Mann hatte nicht nur eine klaffende Wunde am Hals, die so tief ging, dass die weißen Wirbel seines Rückgrats zu sehen waren und sein Kopf nach hinten sackte wie an einer lockeren Türangel. Er war auch kastriert und ausgeweidet worden.
Goodsir war noch wach, als Crozier das Zelt betrat. Der Arzt untersuchte gerade mit spitzen Instrumenten mehrere aus der Leiche entfernte Organe. Mit einem sonderbar nachdenklichen, fast schuldbewussten Blick sah er zu Crozier auf. Der Kapitän stand direkt vor der Leiche, und beide blieben sie längere Zeit stumm. Schließlich strich Crozier eine blonde Strähne zurück,
die John Irving in die Stirn gefallen war. Die Locke hatte beinahe die offenen, glasig starrenden Augen des Leutnants berührt.
»Sehen Sie zu, dass der Leichnam morgen Mittag zur Bestattung bereit ist«, sagte Crozier.
»Ja, Sir.«
Dann ging der Kapitän zurück in sein Zelt, wo Fitzjames schon auf ihn wartete.
Vor einigen Wochen hatte Croziers Steward, der dreißigjährige
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